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Gut zu wissen

«Ich wurde gestossen, gedrückt und geschlagen, versuchte aber, das Weinen zurückzuhalten.» Bild: Amy Bollag

"Du hast den Heiland gekreuzigt!"

Von: Amy Bollag

31. März 2015

Amy Bollag erinnert sich an eine Schulpause, die sein noch junges Leben prägen sollte.

1931, erstes Schuljahr, auf dem Pausenplatz: Ich, ein noch ganz junges, un­geschältes Ei, ständig am Wundern und Staunen. Alles neu und ungewohnt. Wir Kleinen versuchen einander näherzukommen. Es ist ein Suchen und Tasten.

Max Zeindler, ein Mitschüler, er stammte aus einem nicht gerade feinen Quartier unserer Stadt, kam auf mich zu. Er schrie mich unvermittelt an. Ich konnte ihn nicht verstehen, begriff auch nicht, was er von mir wollte. Ich wusste nur, dass er sonst von den Kindern nicht sehr geachtet wurde. Er schimpfte mit mir: Ich hätte den Heiland gekreuzigt.

Den Namen Heiland kannte ich damals noch nicht, aber ich wusste bald, dass er Jesus meinte. Max ereiferte sich immer mehr, und die Schüler nahmen seine Worte auf und näherten sich mir bedrohlich. Ich wurde gestossen, gedrückt und geschlagen, versuchte aber, das Weinen zurückzuhalten. Nach ­einem groben Schlag ins Gesicht konnte ich nicht mehr. Die Tränen flossen. Glücklicherweise läutete es. Die Pause war zu Ende.

Schluchzend quetschte ich mich in die Schulbank. Fräulein Spengler, sie war übrigens eine sehr nette Lehrerin, wollte den Grund meines Weinens wissen. Ich erzählte ihr mühsam, was geschehen war: Ich würde von der Klasse angeklagt, am Tod von Jesus Schuld zu sein. Sie wies den Zeindler zurecht und befahl der Klasse, dass so etwas nicht mehr vorkommen dürfe. Aber über die erhobene Anklage gegen mich liess sie kein Wort verlauten. Wenn sie wenigstens gesagt hätte, dass seither immerhin zweitausend Jahre vergangen seien. Ich war entsetzt. Die Anklage blieb be­stehen.

Zum ersten Mal in meinen jungen Jahren erlebte ich einen Gletscher im Alltag, aber einen Gletscher, der nie schmilzt.

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