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Interview

"Das Sozialamt ist nicht die Endstation"

Von: Ginger Hebel

28. Juli 2014

Karin Dieziger ist Leiterin Fachstab Soziale Integration der Sozialen Dienste Zürich und Leiterin des Intake im Sozialzentrum Selnau. Sie weiss, was zu tun ist, wenn man ausgesteuert wurde, und wer einem weiterhilft.

Tagblatt der Stadt Zürich: Frau Dieziger, in unserem Artikel von letzter Woche ging es um eine alleinerziehende Mutter, die ausgesteuert worden ist und von Sozialhilfe lebt. Sie hat 700 Bewerbungen geschrieben – vergebens. Ist das normal?

Karin Dieziger: Solche Fälle gibt es. Erfahrungsgemäss haben meist hochqualifizierte Personen Mühe, eine neue Stelle zu finden, weil sie auf ein Gebiet spezialisiert sind, wo das Stellenangebot klein ist. Ich würde aber davon abraten, Massenbewerbungen zu verschicken, da man nicht mehr richtig auf das jeweilige Inserat eingehen kann. Es ist wie bei der Wohnungssuche: Man muss mit seiner Bewerbung herausstechen. Im Fall von Frau Meier würde ich empfehlen, genau zu schauen, wie sich ihr Bewerbungsdossier präsentiert und ob es vollständig ist. Entscheidend ist auch ein gutes Motivationsschreiben. Bei einer Bewerbung ist es wichtig, nicht nur zu erwähnen, was man kann, sondern auch zu erklären, warum man den Job unbedingt haben will.

Was geht in den Menschen vor, die in die Arbeitslosigkeit gerutscht sind und ausgesteuert wurden?

Sie befinden sich in einer extrem belastenden Situation. Viele Betroffene können schwer damit umgehen, fallen in eine Depression oder werden physisch krank, sodass sie gar nicht mehr arbeiten können. Stellenverlust löst Unsicherheit und Existenz­ängste aus. Ausgesteuerte werden oft auch von der Gesellschaft ausgegrenzt. Wenn das Arbeitsamt nicht mehr zuständig ist, verlieren viele vorübergehend den Boden unter den Füssen und melden sich erst gar nicht beim Sozialzentrum. Sie nehmen Darlehen auf und verschulden sich. In der Stadt Zürich läuft ein Pilotprojekt namens «Coaching für Ausgesteuerte». Wir haben es zusammen mit dem kantonalen Amt für Wirtschaft und Arbeit ins Leben gerufen, weil wir gemerkt haben, dass bei den Betroffenen eine grosse Unsicherheit herrscht. Das System in der Schweiz ist nicht ganz einfach, was Sozialversicherungen betrifft. In der Stadt Zürich existieren jedoch fünf Sozialzentren, wo man jeden Morgen ohne Voranmeldung vorbeigehen kann und Hilfe in schwierigen Lebenssituationen erhält. Diesen Schritt muss aber jeder selber tun.

Was heisst «ausgesteuert» konkret?

Ausgesteuert wird, wer keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosengeld hat, weil die Taggelder der Arbeitslosenversicherung ausgeschöpft sind. In der Regel ist dies nach 1½ Jahren der Fall. Faktoren wie das Alter, die persönliche Situation und die Anzahl Jahre, die man gearbeitet hat, spielen eine Rolle. Zu uns ins Sozialzentrum kommen auch Personen, die ihren Job gekündigt haben, weil sie eine neue Herausforderung suchten. Doch dann finden sie keine Arbeit mehr. Es ist auch für ältere Leute schwieriger geworden, eine Stelle zu finden. Trotzdem haben nicht alle Anspruch auf finanzielle Leistungen der Sozialhilfe. Bei Verheirateten beispielsweise ist der verdienende Partner verpflichtet, finanzielle Unterstützung zu leisten.

Wer hat denn Anspruch auf Sozialhilfe?

Finanzielle Hilfe erhält nur, wer nicht genügend Einnahmen hat, um das Existenzminimum zu decken. Entscheidend ist aber auch die Höhe des Ersparten. Bei Alleinstehenden liegt die Vermögensgrenze bei 4000 Franken, bei Verheirateten bei 8000 Franken, bei Familien bei maximal 10 000 Franken. Wer genug Erspartes hat, muss es für den Lebensunterhalt einsetzen. Es ist jedoch ratsam, sich frühzeitig an uns zu wenden und nicht erst, wenn man gar kein Geld mehr zur Verfügung hat. Denn die Prüfung aller Unterlagen kann durchaus einige Zeit in Anspruch nehmen. Wir benötigen zum Beispiel Kontoauszüge, Arbeits- und Mietverträge, Kündigungen und Entscheide der Arbeitslosenkasse.

Welche Auflagen muss man erfüllen, wenn man sich beim Sozialamt meldet?

In der Stadt Zürich werden Personen, die Sozialhilfe beziehen und arbeitsfähig sind, verpflichtet, an einem sogenannten Basisbeschäftigungsprogramm teilzunehmen. In einer vierwöchigen Abklärung gehen sie einer handwerklichen Tätigkeit nach und führen regelmässig Gespräche mit einer Fachperson aus dem Sozialbereich. Alles dreht sich bei diesem Einsatz um die Fragestellung: Welches ist der richtige Weg zurück in die Arbeitswelt? Das oberste Ziel ist die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt, zurück in die Unabhängigkeit. Auch erhalten Ausgesteuerte von den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) Unterstützung bei der Jobsuche.

Arbeitslosigkeit kann alle treffen. Kommt es vor, dass Ausgesteuerte wieder einen Job im erlernten Beruf finden?

Häufig sogar. Viele finden kurz nach der Aussteuerung eine Stelle, aber nicht immer im erlernten Beruf. Es werden also längst nicht alle Ausgesteuerten unterstützungsbedürftig. Die Sozialhilfe ist wohl das letzte Netz, aber es ist nicht die Endstation. Ehemalige Topverdiener, die den Job verlieren und schliesslich Zeitungen austragen oder putzen. Ist das die ­Realität? Dieziger: Das ist ein eher krasses Beispiel. Es ist aber schon so, dass eine dem Alter und dem Gesundheitszustand gemässe, zumutbare Stelle angenommen werden muss. Es ist wichtig, wieder einen Fuss in die Tür zu bekommen. Je länger die Arbeitslosigkeit andauert, desto schwieriger wird es, eine Stelle zu finden.

Wie kommt man wieder aus der Sozialhilfe heraus?

Indem man alles in seiner Macht Stehende tut, um eine Stelle zu finden. Wer Sozialhilfe bezieht, muss alle Einkünfte deklarieren, dann werden diese von den Leistungen abgezogen. Das Sozialzentrum schaut, dass das Existenzminimum gesichert ist. Verdient jemand wieder mehr, dann kann er von der Sozialhilfe abgelöst werden.

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