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Interview

Venezianische Schlachtdarstellung: Schlacht von Marignano, nach 1515, Giovanni Andrea Vavassore. Bild: Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv.

Die profitable Niederlage

Von: Jan Strobel

14. April 2015

"1515 Marignano": Die Historikerin Erika Hebeisen, Kuratorin der aktuellen Ausstellung im Landesmuseum, über eine Schlacht, die zum Mythos wurde.

Tagblatt der Stadt Zürich: Erika Hebeisen, erlauben Sie uns zu Beginn ein kleines Gedankenspiel. Was wäre, hätten die Eidgenossen auf dem Schlachtfeld von Marignano gegen die Franzosen und die Venezianier den Sieg davongetragen? Wäre die Lombardei heute ein Schweizer Kanton, Silvio Berlusconi womöglich Bundesrat geworden?

Erika Hebeisen: Wissen Sie, man kann sich das eigentlich gar nicht vorstellen. Mailand war bereits damals eine Metropole mit rund 100 000 Einwohnern, wohingegen Bern und Zürich zusammen gerade mal auf 10 000 kamen. Das Herzogtum Mailand war damals eine prosperierende Wirtschaftsregion. Am prächtigen Hof von Mailand versammelten sich renommierte Künstler und hochrangige Adlige. Diese Welt war den Eidgenossen fremd. Wie hätte die kompliziert strukturierte Eidgenossenschaft dieses Herzogtum je verwalten sollen? Das Potenzial war politisch nicht vorhanden. Kurz gesagt: Das Herzogtum Mailand wäre schlicht eine Schuhnummer zu gross für die Eidgenossen gewesen. 

Kaum eine Schlacht in der Schweizer Geschichte aktiviert ideologische Denkmuster so stark wie Marignano:  Für die einen ist sie Symbol eines wehrhaften Landes, das sich auf sich selbst zurückzieht, und wird als Geburtsstunde der Neutralität gefeiert. Andere misstrauen dem nationalkonservativen Charakter des Gedenkens. Und dann gibt es jene, die einer vermeintlich verlorenen Chance hinterhertrauern, welche die Schweiz möglicherweise als europäische Macht etabliert hätte. Wie bewerten Sie diese Debatten? 

Diese Debatten setzen immer bereits bei den Schlüssen an, die längst aus den Ereignissen rund um Marignano gezogen worden sind. Sie zielen auf politische Rezepte für die Gegenwart. Unsere Ausstellung bettet die Schlacht in grössere Zusammenhänge ein – in den historischen Kontext. Sie ermöglicht es dem Besucher, einen Schritt zurückzutreten und sich selber mit verschiedenen Themen rund um Marignano auseinanderzusetzen. Die politische Debatte ist derzeit zu polarisiert und deshalb wenig produktiv. Ich wünschte mir in der ganzen Diskussion um Marignano eine sachbezogenere Auseinandersetzung mit der Schweizer Geschichte. Geschichte und Politik werden zu stark vermischt.

Können Sie Beispiele nennen?

Nehmen wir die Neutralitätsdebatte.  Die eidgenössische Niederlage bei Marignano hat unmittelbar nichts mit der «Schweizerischen Neutralität» von heute zu tun. Die damalige Eidgenossenschaft war ein labiles und keineswegs in jeder Hinsicht einiges Gebilde. So zeigten Bern, Freiburg und Solothurn beispielsweise wenig Interesse an den Feldzügen in die Lombardei. Sie zogen ihre Aufgebote vor der Schlacht bei Marignano wieder zurück. Bern wiederum führte nach der Niederlage in Marignano im Alleingang einen klassischen Eroberungsfeldzug und entriss dem Herzogtum Savoyen 1536 die Waadt. Daran sehen Sie, dass die angebliche Selbstbeschränkung der Schweiz nach Marignano auf wackligen Füssen steht. Kommt hinzu, dass das äusserst lukrative Söldnerwesen in den kommenden Jahrhunderten florierte. Möglich machte das auch der Friedensvertrag von 1516, den der siegreiche französische König Franz I. 14 Monate nach der Schlacht mit den Eidgenossen schloss. Für die Eidgenossen war dieser «Ewige Friede» ein sehr profitabler Vertrag.  

Man könnte also auch sagen: ein Meisterstück der Diplomatie.

Absolut. Die Eidgenossen durften die zuvor eroberten Tessiner Vogteien behalten, Frankreich wiederum schuf mit dem Vertrag die Voraussetzungen für den späteren Zugriff auf die eidgenössischen Söldner. Das war langfristig den Einnahmen hauptsächlich des katholischen Teils der Eidgenossenschaft sehr zuträglich.

Welche Rolle spielt Marignano in der Zürcher Geschichte?

Die Niederlage bei Marignano war für Zwingli eine einschneidende Erfahrung. Die herben Verluste verknüpften sich in Zürich mit der sich ausbreitenden refomierten Kritik. Zwingli prangerte das Söldnerwesen an, er verabscheute die Käuflichkeit der Militärunternehmer. Es war aber auch derselbe Zwingli gewesen, der kurz vor der Schlacht im Feldlager bei Monza die Glarner Truppen als Feldprediger gesegnet hatte. Später rochen aber auch, salopp gesagt, die Reformierten «den Braten»: Sie unterzeichneten schliesslich die Soldallianz mit Frankreich doch noch und stellten später, als Gegenreaktion zu den Katholiken, den reformierten Niederlanden ganze Regimenter zur Verfügung.

Wie wurde dieser Mythos Marignano eigentlich geboren?

Abgesehen vom Totengedenken nach der Niederlage 1515 ist Marignano sehr lange kein Thema und taucht dann Ende des 17. Jahrhunderts vereinzelt wieder auf. Erst im 19. Jahrhundert mit dem Aufkommen des Nationalismus wird es zum politischen Argument. Die Grossmächte am Wiener Kongress hatten 1815 die Eidgenossenschaft als Puffer neu etabliert und dem damaligen Staatenbund die «immerwährende Neutralität» auferlegt. Später, nach 1848, brauchte die Schweiz Mythen, die dem jungen Bundesstaat ein historisches Fundament lieferten. Marignano kam besonders wieder ins Spiel, als der deutsche Reichskanzler Bismarck 1889 drohte, die Neutralität der Schweiz zu widerrufen und Truppen an die Grenzen zu verschieben, sollte das Land die zugezogenen Sozialisten nicht ans Deutsche Reich ausliefern. In der Schweiz wurde das als schnöde Souveränitätsverletzung empfunden, die nun mit dem Argument der althergebrachten Neutralität pariert wurde. Davon ausgehend setzte sich die Ursprungslegende «neutral seit Marignano» durch.
   
Die Ausstellung «1515 Marignano» ist noch bis 28. Juni im Landes­museum Zürich zu sehen. Infos: www.nationalmuseum.ch

Vertrag mit Frankreich: Der «Ewige Friede» zwischen der Eidgenossenschaft und dem französischen König Franz I., 1516.
Bild: Schweizerisches Nationalmuseum

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