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Interview

Symbolische Landnahme: Die Schweizer Grönlandexpedition von 1912. Bild: ETH Bildarchiv

Ein "Schweizerland" im arktischen Eis

Von: Jan Strobel

28. Juni 2016

Die Schau «Transactions» behandelt im Rahmen der Manifesta unter anderem die Beziehung der Schweiz zum Kolonialismus. Die Historikerin Lea Pfäffli stellt darin die Schweizer Grönlandexpedition 1912 vor.

Lea Pfäffli, die Schweiz besass nie Kolonien. Was spielte sie für eine Rolle in der Zeit des Kolonialismus?
Der Begriff Kolonialismus umfasst mehr als nur territoriale Landnahme. Er bezeichnet auch ein kulturelles und wissenschaftliches Projekt mit eigenen Ideen und Denksystemen, die nicht an Landesgrenzen haltmachten. In der Schweiz waren es vor allem Einzelpersonen, Kaufleute oder Naturwissenschaftler, die sich an kolonialen Unternehmungen beteiligten. Der Zürcher Hans Caspar Zoller zum Beispiel kaufte im 16. Jahrhundert Sklaven in Westafrika und verkaufte sie in Brasilien. Ihm folgten andere Zürcher Patrizierfamilien, die mit Sklaven handelten oder sie auf Plantagen schuften liessen. Schätzungen gehen davon aus, dass Schweizer an 1,5 Prozent der gesamten Deportationen von Sklaven beteiligt waren. Das sind bis zu 180 000 Menschen.

Wie passt die Schweizer Grönlandexpedition von 1912 in diesen kolonialen Kontext?
Es geht bei den Grönlandexpeditionen vor allem um die Rolle der Wissenschaft, die eng mit dem Kolonialsystem verflochten war. Es ging um die Erforschung der indigenen Völker, aber auch der Pflanzen, der Tiere, um die Geografie eines Gebiets. Wissen ist Macht. Und deshalb waren die Erkenntnisse der Expedi­tionen für die Kolonialmächte von entscheidender Bedeutung, um ein Gebiet beherrschen zu können. Das war auch in Grönland so. Die Schweizer Expedition um den Arktisforscher Alfred de Quervain arbeitete eng mit der dänischen Kolonialverwaltung zusammen.

Wie sah die Forschung der Schweizer in Grönland aus?
Neben geografischer, botanischer oder glaziologischer Forschung widmeten sie sich auch der Rassen­forschung. Inuit-Gräber wurden auf­gebrochen und die Schädel entnommen. Sie lagern noch heute in Zürich. Die Forscher vermassen auch lebendige Menschen, um vermeintliche Rassenmerkmale zu untersuchen. Man glaubte, die Inuit entstammten einer «höheren Rasse», weil sie sich in der Arktis behaupteten. Doch das Verhältnis der Forscher zur lokalen Bevölkerung blieb ein Gewaltverhältnis, auch wenn man die Inuit nicht pauschal zu Opfern stilisieren kann.

Inwiefern?

Durch diese Expeditionen eröffneten sich für die Inuit zahlreiche Geschäftsfelder. Sie verkauften Forschern Dienstleistungen, eröffneten zum Beispiel eine Hundeschule, in der die Expeditionsteilnehmer lernen konnten, mit Schlittenhunden umzugehen. Selbst Prostitution gehörte zu diesen Dienstleistungen. Grönländische Frauen boten sich den Polarforschern an. Es kam auch zu zahlreichen Liebesverhältnissen. 

Wie wurde die Expedition damals in der Schweiz wahrgenommen?
Die Polarforscher wurden natürlich als Helden gefeiert. Es brach ein regelrechtes Polarfieber aus. Schweizer hatten die Erstüberquerung Grönlands geschafft. Die NZZ publizierte im Vorabdruck die Reise­berichte. Dazu kam die Stilisierung der Schweizer als «alpine Rasse», die sich besonders für die Polarforschung eignen würde. Expeditionsleiter de Quervain war überzeugt, dass es die Liebe der Schweizer zum Hochgebirge oder die Vertrautheit mit Schnee und Gletscher seien, welche die Schweizer besonders für solche Expeditionen befähigten.  

Fotografien aus der Zeit zeigen die Expeditionsteilnehmer, wie sie vor einer Schweizer Flagge posieren. Gab es nie den Versuch einer Landnahme?

Tatsächlich nannte de Quervain ein Gebiet in Ostgrönland «Schweizerland», und eine Bucht erhielt den Namen «De Quervains-Havn». Das Hissen der nationalen Flagge und das Benennen von vermeintlichen weissen Flecken der Land­karte waren typische koloniale Praktiken. Das Gebiet gehörte aber schliesslich Dänemark.

Gab es nach 1912 noch Schweizer Grönlandexpeditionen?
In den 20er- und 30er-Jahren rekrutierten Dänen gerne Schweizer Forscher für ihre Grönlandexpeditionen. Und 1957 übernahm die Schweiz die Leitung der internationalen glaziologischen Grönland­expedition. Bis heute sind Schweizer Forscher sehr stark in der Arktis vertreten.

Haben diese Expeditionen von damals den Blick auf die Inuit verändert?
Das ist schwierig zu sagen. Natürlich lieferten diese Expeditionen gerade aus naturwissenschaftlicher Sicht wichtige Erkenntnisse, die wir heute auch in der Klimaforschung anwenden. Was die Inuit betrifft, bin ich skeptisch. Noch heute werden sie ja gern zum «exotischen Naturvolk» stilisiert. Denken Sie nur an die ­«Iglu-Romantik». Auch beim Verkauf von Outdoor-Kleidung wird mit den Inuit Werbung gemacht. Darin steckt immer noch ein Stück kolonialistisches Gedankengut.

Unter dem Titel «Transactions» verwandelt die Universität Zürich bis zum 10. Juli im Rahmen der ­Manifesta ihr Hauptgebäude in einen Raum für künstlerische und wissenschaftliche Erkundungen.
www.manifesta11.uzh.ch

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