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Interview

Erforschen die Auswirkungen von Filmen: Julia Zutavern (l.) und Margrit Tröhler. Bild: Sacha Beuth

«Filme können die Gesellschaft prägen»

Von: Sacha Beuth

29. Oktober 2013

Inwieweit haben Filme auf die Entwicklung von Städten wie Zürich und deren soziale Bewegungen Einfluss? Dieser Frage sind Margrit Tröhler und Julia Zutavern, Filmwissenschaftlerinnen an der Uni Zürich, nachgegangen. Zu diesem Zweck haben Sie Filme, die bis in die 70er-Jahre zurückreichen, analysiert. Die Ergebnisse stellten die beiden kürzlich im Filmpodium in einem Vortrag der Reihe «Wachstumsschmerzen – Gesellschaftliche Herausforderungen der Stadtentwicklung und ihre Bedeutung für Zürich», die Universität und Stadt Zürich organisiert haben, vor.

Tagblatt der Stadt Zürich: Margrit Tröhler und Julia Zutavern, was gab bei Ihnen den Anstoss, sich diesem Thema zu widmen?

Julia Zutavern: Bei mir war es der zufällige Besuch einer Ausstellung vor etwa sechs Jahren in der Kunsthalle Basel, die sich der Video- und Super-8-Bewegung der 70er- und 80er-Jahre widmete. Dort sah ich Filme über Hausbesetzungen. Das brachte mich auf die Idee, mögliche Einflüsse zwischen Filmen und sozialen Bewegungen zu untersuchen. Schliesslich habe ich dann das Thema für meine Dissertation gewählt.

Margrit Tröhler: Ich arbeite seit längerem an Projekten, die untersuchen, was Filme bewegen. Dabei geht es weniger um Film als Kunst als um die soziale Funktion von Filmen. Als dann für die Veranstaltungsreihe Referenten gesucht wurden, haben wir uns zusammengetan, wobei ich mich dem allgemeinen Rahmen widmete und Julia konkret auf die Filme der sozialen Bewegungen in Zürich einging.

Wie kann man beweisen, dass Filme einen Einfluss auf das Alltagsleben einer Stadt haben?

Tröhler: Es handelt sich nicht um Beweise, aber um konkrete Hinweise, Mediendebatten oder bezeugte Aktionen. Es gibt überall auf der Welt Filme, die die Gesellschaft prägen oder zu einem Umdenken führen, etwa wenn sie durch gewisse Szenen einen Skandal hervorrufen, weil sie zensiert werden oder weil sie Demonstrationen auslösen.

Nennen Sie mal ein typisches Beispiel mit Zürich-Bezug.

Zutavern: Richard Dindos Film «Dani, Michi, Renato und Max» von 1987. Er handelt von vier Vertretern der 80er-Jahre-Bewegung, die infolge von Polizeiaktionen ums Leben kamen, wobei die involvierten Beamten alle freigesprochen wurden. Der Dokfilm zeigt, dass die Freisprüche politisch motiviert waren. Zwar konnten dadurch die Fälle nicht neu aufgerollt werden, aber es gibt Hinweise darauf, dass der Film ein Umdenken auslöste. So sagte etwa der damalige Stadtpräsident Thomas Wagner, nachdem er den Film gesehen hatte, er sei erschüttert, und so etwas dürfe in Zürich nie wieder passieren. Ein weiteres Beispiel ist «Züri brännt», ein Video, das bei vielen Aktivitäten der 80er-Jahre-Bewegung gezeigt wurde, immer wieder Tumulte auslöste und der Bewegung auch im Ausland Ausdruck verlieh.

Nach Ihrem Vortrag haben Sie jedoch Peter Kriegs «Das Packeis-Syndrom» von 1982 gezeigt. Warum?

Zutavern: Weil er ein gutes Beispiel für unser Thema «Stadtkritik und Erinnerungspolitik in filmischen Darstellungen sozialer Bewegungen» ist. Der Film gibt vor, die Bahnhofstrasse zu porträtieren, interessiert sich im Grunde aber mehr für die Ursachen und Folgen der Jugendbewegung. Er erfindet das «Packeis-Syndrom», eine Epidemie, die an der Bahnhofstrasse ihren Anfang genommen haben soll, und verärgerte damit vor allem bürgerliche Kreise.

Gibt es auch Spielfilme, die Einfluss auf die Gesellschaft haben?

Tröhler: Durchaus. Nehmen wir «Die Schweizermacher». Der löste nach seinem Erscheinen 1978 eine grosse Kontroverse über die Einbürgerungspraxis aus. Im Ausland glauben noch heute viele Leute, dass wer Schweizer werden will, sich genau den gleichen Schikanen unterwerfen muss wie die Protagonisten in Rolf Lyssys Komödie.

Sie haben nur die Einflüsse von Filmen auf die Gesellschaft untersucht, die von heute bis 1970 zurückreichen. Gab es diese zuvor nicht?

Tröhler: Natürlich. Denken Sie etwa an «Die Sünderin» aus dem Jahr 1951, gegen den christliche Gruppen demonstrierten, weil er Prostitution und Sterbehilfe glorifizieren würde. Anders als etwa in Deutschland oder Frankreich hat man in der Schweiz jedoch anstössige Szenen oft zensiert oder einen Film aus dem Verkehr gezogen, bevor er für Krawalle sorgen konnte.

Zutavern: Es gibt noch einen weiteren, praktischen Grund für die zeitliche Beschränkung. Wir hätten bei der Menge gar nicht alles untersuchen können.

Wie hoch schätzen Sie generell den Einfluss der Filme auf die Gesellschaft ein?

Zutavern: «Züri brännt» hatte etwa den gleichen Einfluss auf die 80er-Jahre-Bewegung wie das Rolling-Stones-Konzert in Zürich auf die der 68er. Generell kann man da aber wohl kein Rating erstellen.

Tröhler: Filme sind in dieser Beziehung ein Element unter vielen. Was am meisten Einfluss hat, bestimmt die Zeit, in der wir leben. Früher waren es Bücher, wie etwa Goethes «Die Leiden des jungen Werther», der zu einer Selbstmordwelle unter jungen Männern führte. Von 1920 bis 1990 war es der Film. Denken Sie nur an die Propaganda in den Kinos während des Zweiten Weltkriegs. Und heute sind es Youtube-Videos, wie es die Geschehnisse rund um den arabischen Frühling zeigen.

Julia Zutavern

Geboren: 26. 5. 1980 in Bad Schwalbach (D).
Karriere: An den Universitäten Zürich und Hamburg studierte Julia Zutavern Filmwissenschaft, Publizistik und Neuere Deutsche Literatur. Seit 2007 ist sie Assistentin, Doktorandin und Lehrbeauftragte am Seminar für Filmwissenschaft der Uni Zürich.

Margrit Tröhler

Geboren: 21. 6. 1961 in Basel.
Karriere: Margrit Tröhler studierte an den Universitäten in Basel und Paris. Seit 2003 ist sie Professorin für Filmwissenschaft an der Universität Zürich und seit März 2013 erneut Leiterin des dortigen Seminars für Filmwissenschaft.

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