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Interview

Die Journalistin Ursula Eichenberger und der ehemalige Jugendanwalt Hansueli Gürber. Bilder: PD

Gürber steht zu seinen Fehlern

Von: Isabella Seemann

27. September 2016

Jugendkriminalität: Eine Neuerscheinung beleuchtet die Person des ehemaligen Jugendanwalts Hansueli Gürber, der durch den Fall Carlos Berühmtheit erlangte. Gürber räumt Fehler ein, ist aber überzeugt, dass straffällige Jugendliche auf mutige Menschen angewiesen sind. Autorin Ursula Eichenberger rechnet in ihrem Buch auch mit der Presse ab.

Hansueli Gürber (65) hatte im Laufe seiner 30-jährigen Karriere, zuletzt als Leiter der Jugendanwaltschaft der Stadt Zürich, mit mehr als 6000 straffälligen Jugendlichen zu tun. Mit dem SRF-Dokfilm «Der Jugendanwalt» ist er schweizweit bekannt geworden. Hansueli Gürber präsentierte darin einen Fall, der später als Fall Carlos Entrüstung auslöste. Nun hat die Zürcher Journalistin Ursula Eichenberger über Gürber das Buch «Der Weichensteller» geschrieben.

Welche Reaktion auf Ihr Buch hat Sie am meisten bewegt?
Hansueli Gürber: Eine ehemalige Klientin schrieb auf Facebook, sie sei so glücklich, dass ich ihr Jugendanwalt gewesen sei und sie mit mir ihren Weg gefunden habe. Diese Überschwänglichkeit berührt mich. Ich versuchte einfach, das Beste aus jedem Jugendlichen herauszuholen und nach meinem Credo zu handeln: «Ich mag dich. Du bist mir wichtig. Ich traue dir etwas zu.» Eine Erfahrung, die viele zuvor nie machten. Den Weg gehen musste der Jugendliche aber selbst.

Für die Realisierung des Buchs haben Sie ehemalige Klienten getroffen. Was hat Sie am meisten überrascht?

Bei meinen Klienten galt ich nie als Kuschler. Ich habe stets mit aller Härte klargemacht, dass wir keine weiteren Straftaten tolerieren und sie für die begangenen die Konsequenzen tragen müssen. Und wenn sie noch so geheult haben, ich verdonnerte sie zu Untersuchungshaft oder sperrte sie in geschlossene Heime, weil ich ihnen zeigen wollte: Jetzt müssen wir etwas ändern. Keiner von ihnen hegt heute einen Groll mir gegenüber. Und bei den einen war ich tatsächlich überrascht, dass sie die Kurve noch geschafft haben.

Was erhoffen Sie sich mit der Publikation des Buchs?
Ich arbeitete stets mit einem speziellen Ansatz und setzte mich bei schwer straffälligen Jugendlichen für individuelle Ausnahmelösungen ein, zu Sondersettings also. Nach dem Fall Carlos trat eine Wende ein. Man will sich nicht die Finger verbrennen und setzt auf Standardlösungen. Vermehrt werden Jugendliche nun in Massnahmenzentren eingewiesen. Doch langfristig würde die Gesellschaft mehr profitieren, wenn straffällige Jugendliche nicht primär bestraft, sondern so erzogen würden, dass sie ins Leben zurückfinden. An diesen Prinzip will ich festhalten.

Hand aufs Herz: nach dem SRF-Dokfilm nun auch noch ein Buch. Treibt Sie Ihre ­Eitelkeit ins Scheinwerferlicht?
Ich scheue die Öffentlichkeit nicht. Aber wenn ich die Gewissheit hätte, dass das Prinzip «aussergewöhnliche Schwierigkeiten verlangen nach aussergewöhnlichen Lösungen» weit verbreitet wäre, dann brauchte es das Buch nicht. Mein Antrieb ist das Engagement für jugendliche Straftäter. Gerade jetzt, nachdem ich einige wieder getroffen habe, zeigt sich, dass der Lösungsansatz mit den Sondersettings in vielen Fällen zu Erfolg führte.

Was trieb Sie an, sich so sehr für jugendliche Straftäter einzusetzen?

Ich mag Menschen, und junge Menschen mit einer gebrochenen Biografie, die schon mit einer Zwei auf dem Rücken geboren sind, mag ich noch lieber. Mein Job war, zu verhindern, dass sie nochmals straffällig werden, und das ist nur zu erreichen, wenn sie ihren Platz in der Gesellschaft finden.

Wie viel Beschönigung findet sich im Buch?
Ich stehe zu meinen Fehlern, und wir haben gezielt auch jene Personen für ihre Einschätzung angefragt, die meiner Arbeit kritisch gegenüberstanden. Sowohl Marcel Riesen, Chef der Oberjugendanwaltschaft (SVP), wie auch Ex-Regierungsrat Martin Graf (Grüne), der mir seine Abwahl angelastet hatte, verweigerten die Bitte um eine Stellungnahme.

Welche Erkenntnis haben Sie beim Interview für dieses Buch gewonnen?
Durch den Kontakt mit den ehemals straffälligen Jugendlichen hat sich für mich bestätigt, dass meine Art zu arbeiten, mit den Sondersettings, die richtige für sie war. Ich bin nach wie vor absolut überzeugt, dass straffällige Jugendliche auf mutige Menschen, die mutige Entscheidungen treffen, angewiesen sind.

Warum wollten Sie ausgerechnet über Hans­ueli Gürber ein Buch schreiben? Ist nicht schon längst alles gesagt?
Ursula Eichenberger: Obgleich über Jugendkriminalität viel geredet wird, gibt es nicht viel Literatur dazu. Anhand der Interviews mit Hansueli Gürber lassen sich Erkenntnisse gewinnen und festhalten. Vor allem aber war es mir ein Anliegen, jene Facetten seiner erfolgreichen Arbeit mit straffälligen Jugendlichen hervorzuheben, die bei der Skandalisierung des Falls Carlos untergegangen sind.

Was imponiert Ihnen an ihm?

Beispielsweise seine Authentizität. Ich habe Hansueli Gürber mit unterschiedlichsten Menschen erlebt, und er behandelt alle gleich, redet mit jedem auf Augenhöhe, ist immer er selbst und spielt keine Rollen.

Was hat Sie am meisten überrascht?
Hansueli Gürbers extrem präzise Art und seine klare, gestochen scharfe Handschrift beim Redigieren des Manuskripts.

Hat das Buch Ihren Blick auf die Jugendkriminalität verändert?
Ja, sehr. Ich kannte die Grundzüge des Jugendstrafrechts und seinen Auftrag. Aber erst im Laufe der Gespräche begriff ich, mit welcher Konsequenz Hansueli Gürber sich eben genau an diesen Auftrag hielt, nämlich die straffälligen Jugendlichen zu einem Leben in der Gesellschaft zu erziehen. Die Schweiz nimmt im Jugendstrafrecht eine Pionierrolle ein und kann Erfolge vorweisen, die in Europa ihresgleichen suchen.

Sie haben mit mehreren ehemaligen Klienten von Hansueli Gürber gesprochen. Was war das Bewegendste?
Diese tiefe Dankbarkeit der ehemaligen Klienten Hansueli Gürber gegenüber. Er hat wirklich Weichen gestellt in ihrem Leben. Man denkt zunächst, es sei ein Luxus, dass straffällige Jugendliche noch mit einer eigenen Wohnung belohnt werden, die er ihnen ermöglicht hat. Aber genau mit einem solchen Schlüsselentscheid lernten sie, Verantwortung zu übernehmen. Denn sie wussten, dass sie ihr Daheim, das sie zuvor nie hatten, nur erhalten können, wenn sie eine Ausbildung machen, in die Therapie gehen und sich begleiten lassen.

In Ihrem Buch steckt auch eine Abrechnung mit der Presse. Wie kritisch sehen Sie Ihre eigene Branche?
Ich vermisste die Fairness. Die Geschichte wurde dermassen zugespitzt, dass viele Journalisten nicht mehr die Bereitschaft hatten, zuzuhören und in die Tiefe zu gehen. Es wäre für die Meinungsbildung wichtig gewesen, ein Gesamtbild zu zeichnen.

Im Rahmen des Literaturfestivals «Zürich liest» erzählt Hansueli Gürber am Sonntag, 30. Oktober ab 16 Uhr, in der von Frank Baumann moderierten Veranstaltung «Menschen und ihre Geschichten» aus seinem Leben. Eintritt frei, Reservation via E-Mail:
tickets@woerterseh.ch

Ursula Eichenberger: «Der Weichensteller –
Jugendanwalt Gürber», Wörterseh-Verlag, 2016, 36.90 Franken.

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