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Interview

Die Mutter als Inspirationsquelle: Regisseur Fredi M. Murer. Bild: PD

"Ich wollte endlich selber die Hauptrolle übernehmen"

Von: Irene Genhart

21. Oktober 2014

In «Liebe & Zufall» erzählt Fredi M. Murer von einem alten Ehepaar und einer lang verdrängten Liebe, die plötzlich nochmals anklopft. Der Film kommt am 23. Oktober ins Kino.

Tagblatt der Stadt Zürich: Ihr neuer Film heisst «Liebe & Zufall». Woher stammt dieser Titel?

Fredi M. Murer: Das ist der Titel eines Romans, den meine Mutter mit 82 geschrieben hat. Eine melodramatische Liebesgeschichte mit ­autobiografischen Bezügen.

Inwiefern autobiografisch?

In ihrem Roman thematisiert meine Mutter eine in ihrem Leben nicht gelebte Liebe. Das ist auch die Thematik meines Films.

Es ist aber keine direkte Verfilmung des Romans?

Nein. Der Roman diente bloss der Inspiration. Meine Mutter ist 1900 geboren. Ihr Roman spielt in den 1920er-, 1930er-Jahren in der Innerschweiz. Ich wollte aber keinen historischen Film drehen und habe die Geschichte in die heutige Zeit und nach Zürich versetzt. Die einzige Referenz an die damalige Zeit ist die 1920er-Jahre-Villa am Zürichberg, in welcher der Film spielt.

Die Geschichte ist fiktiv?

Ja, sozusagen frei erfunden, aber meine Eltern sind dabei Modell gestanden. Das Filmpaar heisst gleich wie meine Eltern: Elise und Paul. Auch haben die beiden Schauspieler, Sibylle Brunner und Werner Rehm, im Wesen und in der Ausstrahlung, aber auch in ihrem Aussehen gewisse Ähnlichkeiten mit ihnen.

Ist das Ihr erster Film mit derart starken Bezügen zu Ihrer eigenen Geschichte?

Eigentlich war «Vitus» auch autobiografisch, aber im umgekehrten Sinn: Ich war als Kind so furchtbar normal und auch ein schlechter Schüler, zudem das jüngste von sechs Kindern. Vitus ist alles, was ich gerne gewesen wäre: blitzgescheit, schlau, hoch musikalisch, kurz: ein Genie. Und ein Einzelkind.

Haben Sie damals nicht gesagt «Vitus» sei Ihr letzter Film?

Doch, ich wollte nach diesem listigen Märchen über meine unerfüllte Jugendsehnsucht eigentlich aufhören. Rückblickend erscheint mir mein Leben als Filmer als ziemlich brav und erlebnisarm im Vergleich zum aufregenden Dasein meiner Filmfiguren. Darum wollte ich in meinem Leben endlich mal selber die Hauptrolle übernehmen, statt immer nur andern dazu zu verhelfen.

Wieso haben Sie sich anders entschieden?

An ihrem 90. Geburtstag lüftete meine Mutter ein gut gehütetes Geheimnis: Sie überreichte mir fünf dicke Bundesordner, vier Romane und eine Autobiografie. «Du solltest gescheiter mal einen Roman von mir verfilmen», sagte sie zu mir, dann würden die Leute wenigstens drauskommen.

Sie haben nicht davon gewusst?

Nein. Sie hat erst nach dem Tod meines Vaters, mit über siebzig, mit dem Schreiben angefangen.

Eine Spätberufene also?

Meine Mutter war immer eine grosse Leserin. Sie hatte ein Couturier-Atelier und bediente als Störschneiderin auch illustre Hotelgäste rund um den Vierwaldstättersee. Offenbar erzählten diese vornehmen Damen ihr oft ihre Liebes- und Leidensgeschichten, die meine Mutter immer aufschrieb, um sie später in ihre ­Romane einzuflechten.

Hat «Liebe & Zufall» auch mit Fredi M. Murer, dem Sohn, zu tun?

Es gibt im Film auch den Theatermann Enrique und die Haushälterin Angela. Angela heisst mit Nachnamen gleich wie die italienische Nachbarsfamilie meiner Kindheit: Tignonsini. Enrique ist als verlorener Sohn ein bisschen mein Alter Ego. Ich bin mit siebzehn von zu Hause ausgezogen und habe mich in Zürich niedergelassen. Hier lebe und arbeite ich seit bald sechzig Jahren und bin nur noch, um Filme zu drehen, in die Innerschweiz zurückgekehrt.

Reden wir von «Liebe & Zufall». Man könnte Ihren Film auch mit «Lügen & Unfälle» überschreiben.

Das klingt mir zu hart.

Aber Elise lebt eine sogenannte «Lebenslüge», und Paul muss «zufällig» Enrique anfahren, damit er ihn kennen lernt.

Stimmt, in diesem Film spielt der Zufall tatsächlich eine stille Hauptrolle. Elise lebte ihr ganzes Leben mit einem imaginären Mann. Diese Geschichte kommt ins Rollen, als sie im Tierspital einem unbekannten jungen Arzt begegnet, der ihrer Jugendliebe so ähnlich sieht, dass sie meint, er stehe höchstpersönlich vor ihr. Sie küsst ihn und fällt dann in Ohnmacht. Das ist übrigens eine Szene, die sich im Leben meiner Mutter 1:1 so abgespielt hat.

Was wurde aus dieser Liebe?

Er wanderte nach Amerika aus, und meine Grossmutter sorgte mit allen erdenklichen Mitteln dafür, dass ihre Tochter ihm nicht folgte. So gesehen verdanke ich meine Existenz meiner Grossmutter.

Es gibt in «Liebe & Zufall» auch dokumentarische Momente, die Geschichte um Enrique und seine Theatergruppe.

Ich hatte ursprünglich zwei Projekte: einen Spielfilm, inspiriert von den Büchern meiner Mutter. Zum anderen wollte ich schon lange einen Dokfilm über Ueli Bichsel drehen. Er ist Autor, Schauspieler, Bühnenbildner, Komödiant, ein Universalgenie der Kleintheaterszene. Ich brauchte für «Liebe & Zufall» einen Sohn und eine Haushälterin und habe diese mit Bichsel und seiner Bühnenpartnerin Silvana Gargiulo besetzt. Sie studieren im Film tatsächlich ihr neues Stück «Knacks» ein, das übrigens am Theater Spektakel 2013 Premiere hatte und mit dem sie zurzeit auf diversen Kleinbühnen unterwegs sind.

«Liebe & Zufall» spielt in Zürich, der Innerschweiz und in Texas. Sie haben das erste Mal in Amerika gedreht?

Ja. Als echter Heimatfilmer habe ich überhaupt zum ersten Mal im Ausland gedreht. Aber der Roman meiner Mutter endet eben in Amerika, also hatte ich keine andere Wahl.

«Liebe & Zufall», ab 23. Oktober im Athouse Le Paris im Lunchkino.

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