mobile Navigation

Porträt

«Nach dem Dreh

Der etwas andere Charmeur

Von: Clarissa Rohrbach

27. Mai 2014

Dieter Städeli: In Schwamendingen kennt ihn jeder. Über den behinderten Dieter (63)hat Hobby-Regisseurin Lia De Luca eine Doku gedreht, die nun für ein Filmfestival selektioniert ist. Das «Tagblatt» hat den «Verführer» im Wohnheim besucht.

Dieter Städeli hat sich chic machen lassen, Etikette ist ihm wichtig. Eine Betreuerin kämmt ihm die Haare, er trägt Hemd, Weste und Krawatte. Um ihn herum stehen Hunderte von Schlumpf-Figuren: Lachende Schlümpfe, tanzende Schlümpfe und auch Schlümpfe, die trötzeln. Er ­grüsst mit einem schelmischen Lächeln und fügt hinzu: «Ich möchte auch ein Schlumpf sein.»

Seit 2010 lebt der geistig Behinderte mit zerebraler Lähmung im Wohnheim Mainaustrasse. Zurzeit ist er wegen eines Sturzes an den Rollstuhl gebunden. Das mag Dieter nicht: untätig zu sein, bekommt ihm nicht. Denn sonst geht der 63-Jährige selbstständig ins Züriwerk ­arbeiten, zurück ins Heim Mittag essen, dann wieder arbeiten, um schliesslich den Feierabend in seinem Zimmer zu geniessen. Sein Alltag unterscheidet sich kaum von jedermanns. Diesen Trott ist er sich seit 45 Jahren gewohnt, und doch ist für ihn nun alles anders. Nach 59 Jahren in der Obhut seiner Mutter hat sich ­Dieter entschieden, von zu Hause auszuziehen. Ein herzförmiges Kissen, auf dem steht: «Ich habe dich lieb», erinnert ihn stets an sie, doch nun muss er seinen Mann stehen.

«Diese Geschichte der Loslösung wollte ich erzählen», sagt Filmemacherin Lia De Luca. Sie und ihre Kollegin Renate Nauer haben Dieter ein Jahr lang mit der Kamera begleitet. Die beiden Frauen arbeiten bei der Stadtpolizei bzw. beim Amt für Justizvollzug und widmeten ihre Wochenenden dem Projekt. Der entstandene Dokufilm wurde nun für das Internationale Filmfestival in Luzern selektioniert. Er beginnt mit der Nahaufnahme der zügigen Schritte der Passanten, mittendrin der schlurfende Gang des Protagonisten. Dieter fällt auf, in Schwamendingen, wo er aufgewachsen ist, kennt ihn jeder. Die Leute fragen nach ihm, weil er durch seine liebenswerte Art unvergesslich bleibt. Diese infantile, herzliche Ausstrahlung wollte De Luca festhalten und damit die Berührungsängste abbauen. «Ich interessiere mich für die einfachen Menschen, die unsere Stadt speziell machen, sie können spannender sein als mancher Promi.»

Mit Dieter zu filmen, war nicht einfach. Manchmal weigerte er sich, ein Mikrofon anzuziehen und trötzelte. De Luca konnte ihm keine Anweisungen geben. «Wir warteten zum Teil stundenlang, bis sich eine charakteristische Situation von selber ergab.» Wie etwa, als Dieter am Unispital vorbeifährt, an seinen dort verstorbenen Vater denkt und sich fragt, ob dieser ihn vom Himmel aus sehe. Oder der unangenehme Moment, als ein Kollege über Sex spricht, worauf er antwortet: «Du bisch en Grüsel.» Anständig, so wie Dieter erzogen wurde. Ausserdem lernte er, die Freizeit aktiv und kreativ zu verbringen: Im Film sieht man ihn langlaufen, malen und im Zirkus auftreten. Dieter steht gerne im Mittelpunkt, auch während des Besuchs des «Tagblatts»: Er fragt zuerst, ob er nun ein Filmstar sei, und danach, ob er jetzt ein Kinder-Überraschungs-Ei bekomme. Die Figürchen sammelt er so eifrig wie die Schlümpfe.

«Du, schöne Frau!»

Man spricht mit Dieter und irgendwie doch nicht. Wenn ihn etwas beschäftigt, redet er pausenlos darüber, aber plötzlich schweift er ab, zeigt auf ein mit Schlümpfen dekoriertes Glas oder antwortet einfach mit: «Weiss ich nicht.» Es ist eine Gratwanderung, zu verstehen, wann er Hilfe braucht und wann er Herr der Situation ist. In diesen Momenten verführt er gerne mit seinem erfrischenden Charme. Auf De Lucas und Nauers Frage, wer seine Freundin sei, hebt er frech die Augenbrauen – sein Markenzeichen – und sagt: «Du bist meine Freundin. Und du natürlich auch.» Den Damen zu schmeicheln, ist seine Spezialität. Im Restaurant ruft er nonchalant die Kellnerin mit einem «Du, schöne Frau!» und bestellt sich eine Cola Zero.

Auch Mutter Ursula Städeli erzählt von Schlüsselmomenten, in denen ihr Sohn unerwartet etwas anpackt. Vor vier Jahren schaute sie ihn verdutzt an, als er ihr sagte: «Du bist jetzt ein altes Müetterli, du schaffst das nicht mehr, ich ziehe ins Heim.» Manchmal heule er und fühle sich unsicher, aber wenn er etwas wirklich wolle, dann gebe es kein Zurück mehr. Die 84-Jährige bekommt Tränen, wenn sie von ihrem Sohn erzählt. Er besucht sie alle zwei Wochen, möchte sie aber nicht im Wohnheim sehen.

«Dieter steckt in einem Prozess, in dem er sich von der heilen Welt von zu Hause trennt und eine neue Selbst­bestimmtheit entdeckt», erklärt sein Betreuer Goran Ivkovic. Seine kindliche Seite sei stärker als bei anderen Menschen. Deswegen quengle er manchmal, um etwas zu erhalten. Es sei wichtig, Grenzen zu setzen, und trotz allem sensibel auf ihn einzugehen. Seine zerebrale Lähmung habe die geistige Entwicklung beeinflusst. Trotzdem könne man jeden seiner Gedanken nachvollziehen. «Zum Teil verliert er sich im Augenblick, da muss ich ihn bei der Stange halten.»

In den 50er-Jahren, als Dieter ein Kind war, seien Behinderte weniger gut integriert gewesen, sagt Ursula Städeli. Sie erinnert sich an Tramfahrten, in denen die Passagiere ihren Sohn anstarrten und die sonst so anständige Frau zur Verteidigung sagte: «Wollen Sie noch ein Erinnerungsfoto?!» Für die Mutter war es anfangs nicht einfach, als sie merkte, dass sich der Junge langsamer entwickelt als die anderen Kinder. Auch Dieter habe gespürt, dass er anders ist, sich aber nicht davon herunterziehen lassen. Mit acht Jahren besuchte er die Heil­pädagogische Schule und Freizeitaktivitäten wie Wandern auf der Rehalp oder Schwimmen im Wärmebad Käferberg. Mit 16 Jahren trat Dieter seinen Job in der Behinderten-Werkstatt an.

Seine Behinderung ist heute kein Thema mehr. Seine abstehenden Zähne schon. Gefragt, was sein grösster Wunsch sei, antwortet Dieter: «Neue Zähne.» Diese haben sich samt Kiefer nach vorne verschoben, weil er als Kind das Essen nicht kaute, sondern mit der Zunge im Gaumen zermalmte. Ein Zahnarzt versuchte, ihn zu operieren, doch weil Dieter nicht stillhielt, versetzte er ihn in die Narkose. Als er nicht mehr atmete, musste die Operation abgebrochen werden. Seitdem findet sich Dieter mit seinen Zähnen ab.

Trotzdem spricht er ohne Scheu jeden an. «Nach dem Dreh ist er noch mehr aufgeblüht, er fühlt sich jetzt ernst genommen», sagen De Luca und Nauer, während sie ihn umarmen. Sein nächster Höhepunkt ist das Udo-Jürgens-Konzert im Hallenstadion. Am Schrank hängen Posters des singenden Charmeurs, seines Vorbilds. Nach dem Interview legt sich Dieter auf ein Kissen, das ihm seine Arbeitskollegen geschenkt haben. Darauf bezirzt ein Schlumpf Schlumpfine mit ­einer Blume.

Der Film «Dieters Welt» von Lia De Luca wird am 9. Juni um 18.30 Uhr auf Tele Top ausgestrahlt. 

Sind Sie auf Facebook? Dann werden Sie vom Tagblatt der Stadt Zürich!

zurück zu Porträt

Artikel bewerten

Gefällt mir 4 ·  
5.0 von 5

Leserkommentare

Barbara Rüegg Jelassi - Ich kenne Dieter sehr gut. Wir sind zusammen aufgewachsen. Er war wie ein Bruder zu uns. Meine Mutter nannte er Vizemuetter. Leider ist sie im Februar 2016 verstorben und kann Dieter's Dokumentarfilm nicht mehr sehen. Es ist toll, so wieder von Dieter zu hören.

Vor 6 Jahren 2 Wochen  · 
Noch nicht bewertet.