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Porträt

Corinne und Philipp Kaiser mit ihrer Tochter Elodie. Das Mädchen leidet an einer seltenen Krankheit.

"Die Nachricht war ein Schlag"

Von: Ginger Hebel

10. März 2015

Tausende Kinder in der Schweiz leiden an einer seltenen Krankheit, wie Elodie, die Tochter von Corinne und Philipp Kaiser. Sie ist die Einzige in der Schweiz, bei der man die Salla-Krankheit diagnostiziert hat. Wir haben sie daheim besucht.

Immer, wenn es an der Türe klingelt, strahlt Elodie. Die Sechseinhalbjährige liebt Besuch, und auch wenn sie ihn noch nicht kennt, nimmt sie ihn an der Hand und führt ihn in die Wohnung, als möchte sie, dass er sich willkommen fühlt bei ihr zu Hause. Elodie ist ein typisches Meitli, das gern mit Puppen spielt und in der Kinderküche köcherlet. Sie ist ein fröhliches Kind und «e Tifigi», sie kennt aber keine Gefahren, steigt überall hoch, man darf sie nie aus den Augen lassen. Auch wenn man es ihr auf den ersten Blick nicht ansieht: Elodie ist unheilbar krank. Sie leidet an einer Speicherkrankheit und ist die Einzige in der Schweiz, bei der man diese Form diagnostiziert hat.

Weltweit sind gerade einmal rund 150 Fälle bekannt. Elodies Eltern, Corinne (41) und Phi­lipp Kaiser (46), sind seit zwölf Jahren ein glückliches Paar. Sie haben sich Nachwuchs gewünscht, ihr Glück aber nicht davon abhängig gemacht. Wenns klappt mit einem Baby, dann wäre das wunderschön, haben sie immer zueinander gesagt, und dann wurde Corinne Kaiser schwanger. «Ich hatte eine sehr gute Schwangerschaft», erzählt sie. Elodie kam vermeintlich gesund zur Welt. Nach etwa sechs Monaten stellten ihre Eltern jedoch fest, dass sich die Kinder von Freunden weiterentwickelten, schnell Fortschritte machten, nur ihr eigenes kaum. Der Kinderarzt beruhigte sie. Väter mit juristischer Ausbildung seien gerne strebsam und manchmal schneller beunruhigt, man dürfe das nicht so eng sehen. «Beim ersten Kind weiss man nicht genau, was normal ist, man hat ja keine Erfahrung», sagt Corinne Kaiser. Als Elodie einjährig war, kroch sie immer noch nicht. Papa Philipp legte Himbeerwege in der Wohnung, um seine Tochter zu locken, weil sie Himbeeren so gerne mag, aber es half nicht. Im Kinderspital diagnostizierten die Ärzte einen Entwicklungsrückstand.

Vor drei Jahren begannen dann die ernsthaften Schwierigkeiten. Elodie war immer müde, ihre Eltern merkten, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Untersuchungen ergaben, dass sie an Diabetes Typ I und Zöliakie, Glutenunverträglichkeit, leidet; Krankheiten, von denen sonst in der Familie niemand betroffen ist. Corinne und Philipp lernten im Kinderspital, wie man einem Kind den Blutzucker misst und wie man ihm Insulin spritzt. Heute müssen sie ihrer Tochter rund zehnmal den Blutzucker messen und bis fünfmal am Tag eine Spritze geben. Früher wollte Corinne Krankenschwester werden, hat diesen Plan dann aber verworfen, weil sie nicht jeden Tag Blut sehen wollte. «Heute sehe ich am Morgen bereits Blut, bevor ich überhaupt die Kaffeemaschine eingeschaltet habe.»

Was sie erlernt, wird sie wieder verlernen

Nach diesem Befund wollten die Kaisers einerseits ihr Kind schützen, es nicht mit vielen weiteren, vielleicht unnötigen Untersuchen belasten. «Aber wir wollten auf der anderen Seite endlich wissen, was Sache ist, ob da noch mehr auf uns zukommt.» Als Elodie vier war, machte man bei ihr ein Schädel-MRI, doch so eines hatten die Ärzte noch nie gesehen, sie waren ratlos. «Wenn die Ärzte keine Ahnung haben, ist man als Eltern erst recht hilflos», sagt Philipp Kaiser. Die Ärzte schickten die Bilder zur Beurteilung in eine Spezialklinik nach Amsterdam. Aus Kostengründen dürfen nie mehrere potenzielle Krankheiten aufs Mal abgecheckt werden, sondern immer nur eine nach der anderen. Es dauert jeweils mindestens ein paar Monate, bis ein Resultat vorliegt. In 50 Prozent der Fälle ergeben auch mehrere genetische Untersuchungen keine klare Diagnose. «Diese ewige Warterei war das Schlimmste», sagen die Eltern. Nach vielen Monaten endlich die Gewissheit. Elodie hat die Salla-Krankheit, eine lysosomale Speicherkrankheit – alles, was sie mühsam erlernt, wird sie, gemäss heutigem Wissensstand, wieder verlernen. Niemand weiss, wann es zum Abbau kommen wird und wie hoch die Lebenserwartung ist. «Die Nachricht war ein Schlag», sagt Corinne Kaiser und streichelt ihrer Tochter, die mit ihrer Puppe im Arm zu ihr auf den Schoss gekrochen ist, über den Kopf. Da es weltweit nur wenige Kinder mit dieser Krankheit gibt, fehlen Erfahrungswerte und Austauschmöglichkeiten mit betroffenen Eltern und Ärzten.

Für 80 Prozent aller seltenen Erkrankungen sind Gendefekte verantwortlich, auch bei Elodie. Häufig sind die Eltern, ohne es zu wissen, Träger eines Gen­defekts. Tragen beide den gleichen Gendefekt in sich, besteht die Möglichkeit, dass sie ihn vererben und die Krankheit beim Kind ausbricht – das Risiko liegt bei 25 Prozent. «Die Wahrscheinlichkeit, bei Euromillions zu gewinnen, sei grösser, sagte man uns.» Die Kaisers könnten mit dem Schicksal hadern und sich fragen, was gewesen wäre, wenn man sich in einen anderen Partner verliebt hätte, wenn alles im Leben anders gekommen wäre, aber sie hintersinnen sich nicht. «Nie, überhaupt nie haben wir unsere Liebe infrage gestellt.»

Jetzt lernen sie die Gebärdensprache

Corinne Kaiser arbeitet 50 Prozent bei einer Grossbank in Oerlikon. «Arbeiten ist für mich ein wichtiger Ausgleich.» Ihr Mann arbeitet bei der Finanzdirektion des Kantons. Letztes Jahr nahm er unbezahlte Ferien, um Zeit für die Familie zu haben, denn Elodie besucht eine heil­päda­gogische Schule und hat, wie alle Kinder hierzulande, zwölf Wochen Schulferien, die wollen sie abdecken und Elodie dann nicht extern platzieren. Der Familienalltag ist durchgeplant. Die Nahrung für Elodie muss abgewogen werden, die Anzahl Kohlenhydrate muss zwingend immer dieselbe sein, die Essenszeiten müssen sie strikt einhalten. «Wenn man noch nicht Familie Schweizer ist, die stur um 18 Uhr zu Abend isst, dann wird man sie zwangsläufig», sagen die Kaisers. Derzeit lernen sie die Gebärdensprache, weil Elodie zwar vieles versteht, nicht aber reden kann. «Sie sagt Oh, oh!, wenn sie etwas angestellt hat, das kleine Schlitzohr», sagt ihre Mutter.

Philipp Kaiser geht mit seiner Tochter oft ins Hallenbad, und sie unternehmen gerne Spaziergänge zu dritt. An guten Tagen mag Elodie rund um den Türlersee laufen. Im Sommer wird sie sieben. Ihre Eltern werden ihr wieder einen schönen Tag bescheren, Gäste einladen. «Geburtstage sind immer auch schwierige Tage, weil wir nicht wissen, wie oft wir ihn noch feiern dürfen.» Es bleibt ihnen die Hoffnung, dass neue Medikamente entwickelt werden, die eine Behandlung oder eine Heilung dieser und anderer Speicherkrankheiten ermöglichen.

Elodie malt am Esstisch und zieht die Aufmerksamkeit auf sich, sie lacht, und ihre Eltern lachen auch. Für einen Moment scheint die Krankheit fast vergessen.

Lesen Sie hier unser Interview zum Thema "Seltene Krankheiten"

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