mobile Navigation

Porträt

Jeder Bissen war einer zu viel

Von: Ginger Hebel

27. Januar 2015

Petra Berwert litt unter dem Zwang, dünn zu sein: Sie hungerte, bis sie zusammenbrach. Lange hat es gedauert, bis sie einsah, dass man essen muss, um gesund zu sein. Die 32-Jährige hat ihre Sucht besiegt und eine Selbsthilfegruppe initiiert.

Der Appetit kommt beim Essen, doch Petra Berwert verging er, sobald sie etwas vor sich auf dem Teller hatte. Angefangen hat das Problem mit dem Essen vor dreizehn Jahren, da war sie neunzehn. Damals musste sie ihre Ausbildung zur Malerin abbrechen, weil sie auf Lösungsmittel allergisch reagierte. Auch die Lehre zur Landschaftsgärtnerin konnte sie nicht abschliessen, da man bei ihr Weichteilrheuma im Frühstadium diagnostizierte. Um die Krankheit in den Griff zu kriegen, durfte sie nicht mehr arbeiten – für Petra Berwert ein Schock. «Ich sass zu Hause herum, ging kaum noch unter die Leute, wurde depressiv.» Der Kummer schlug ihr auf den Magen – sie ass immer weniger. «Plötzlich merkte ich, dass ich mit Abnehmen Erfolg habe, dass ich da etwas erreiche, wenigstens einmal in meinem Leben.»

Sie begann, sich Ziele zu setzen: 1 Kilo weniger bis Ende Woche, 4 Kilo weniger bis Ende Monat. Hungergefühle unterdrückte sie eisern; die Pfunde purzelten. Mehrmals am Tag stand sie auf die Waage, jedes Gramm weniger löste bei ihr ein Glücksgefühl aus. Innerhalb eines Dreivierteljahres hat sie 15 Kilo abgenommen und wog bei einer Grösse von 1,86 Metern nur noch 57 Kilogramm. Dabei war sie gar nie dick, sondern eine normalgewichtige junge Frau. «Da war eine Stimme in meinem Kopf, die mir befahl, nichts zu essen», erzählt Petra Berwert. Sie erinnert sich, wie sie sich in einer Konditorei etwas Süsses kaufte, sich aber nicht überwinden konnte, es zu essen, und das Tortenstück in den nächsten Kübel warf.

In der akuten Phase der Magersucht ass sie nur noch einen Apfel am Tag und nahm sehr wenig Flüssigkeit zu sich; irgendwann war ihr auch das zu viel. «Ich ernährte mich von Caramelzältli.» Um sich innerlich leer zu fühlen, nahm sie über ein halbes Jahr lang Abführmittel im Übermass, acht bis zehn Tabletten täglich – eine Tortur für ihren geschwächten Körper.

Haarausfall, Schwindel, Ohnmacht

3,5 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind mindestens einmal in ihrem Leben von einer Essstörung betroffen (siehe Box). Sie leiden unter Bulimie (Essbrechsucht), Anorexie (Magersucht) oder Binge Eating Disorder (Essattacken). Dabei hat Essen und Kochen in der heutigen Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Essen führt Menschen zusammen, es ist ein Akt der Geselligkeit, dem sich Petra Berwert entzog. Während der Essenszeiten flüchtete sie ins Fitnesscenter, und wenn sich ihre Freundinnen über eine Pizza Margherita hermachten, stocherte sie im Salat herum. Sie wurde zwar immer dünner, aber auch kränker. Sie fühlte sich erschöpft, litt unter Schwindel. Durch die Mangelerscheinungen bekam sie Haarausfall, Schuppenflechte, und ihre Menstruation blieb aus. Bis ihr Freund ihr eines Tages fadengrad ins Gesicht sagte: «Du ekelst mich an.» «Ich war geschockt, dass er das zu mir sagte. Aber ich wusste, wenn ich mir jetzt nicht helfen lasse, dann ist es zu spät», erzählt Petra Berwert. Tags darauf war sie so schwach, dass sie zu Hause ohnmächtig zusammenbrach. Ihr Freund fand sie am Boden liegend und brachte sie ins Krankenhaus. Sie erinnert sich an den Morgen danach, wie die Krankenschwester ihr das Frühstück ans Spitalbett brachte, mehrere Scheiben Brot, Butter und Joghurt. «Ich war wütend. Wie hätte ich das denn alles essen sollen?» Kurz darauf entliess man sie, ohne ihr zu helfen oder Anlaufstellen anzugeben. «Essen Sie mehr», war alles, was die Ärztin zu ihr sagte. Durch ihren Frauenarzt fand sie den Psychiater ihres Vertrauens. Zum ersten Mal seit langem hatte Petra Berwert das Gefühl, ernst genommen zu werden.

Meistens sind es pubertierende Mädchen, die der Magersucht verfallen, weil sie sich von den perfekt retuschierten Fotos in den Hochglanzmagazinen unter Druck gesetzt fühlen. Und weil sie in der Gesellschaft, in den Medien und auf sozialen Plattformen konstant mit überhöhten Idealen konfrontiert sind, wie die Jugendorganisation Pro Juventute sagt. In Onlineforen gründen die Mädchen Gruppen und veranstalten Abnehmwettkämpfe, weil sie glauben, nur wer dünn ist, ist begehrt. Petra Berwert hat sich nie mit anderen verglichen, bei ihr war es seelischer Stress, der ihr die Lust am Essen nahm. Zu Hause klebte sie alle Spiegel ab, damit sie sich darin nicht mehr betrachten und Fettpölsterchen suchen konnte, die es an ihrem mageren Körper längst nicht mehr gab.

Die erste Mahlzeit war ein Kampf

Sie musterte das Häppli auf ihrem Teller von allen Seiten, ehe sie es auf die Gabel nahm und in den Mund schob. «Durch die Magersucht war mein Magen klein geworden, ich hatte starke Bauchschmerzen, sobald ich etwas ass», erinnert sich Petra Berwert. Jahrelang litt sie unter Verdauungsbeschwerden. Ihr Freund zeigte sich geduldig, ermunterte sie zu essen. Im letzten Moment hat sie es dann selber eingesehen: Wer gesund sein will, muss essen.

2007 heirateten sie, und vor zwei Jahren wurde Petra schwanger. Diesmal war ihre Angst, zuzunehmen, berechtigt. Ihr Bauch wurde immer dicker, doch sie blieb gelassen und ernährte sich ausgewogen. Den Schwangerschaftskilos ist sie nach der Geburt mit Sport zu Leibe gerückt. Heute ist der 32-Jährigen ein gesunder Körper wichtiger als die Kiloanzeige auf der Waage, die hat sie aus ihrem Leben verbannt. Sie hat wieder ein entspanntes Verhältnis zum Essen. Wenn sie Lust hat, isst sie einen Burger und das Schöggeli zum Kaffee. Auch ihr Mann freut sich, dass sie wieder etwas mehr auf den Rippen hat. «Ich gefalle ihm so viel besser als spindeldürr, das fand er nie schön.» Vergangenen November hatte er einen schweren Töffunfall, aktuell erholt er sich noch in der Reha. Die Sorge um ihren Mann wäre ein Grund gewesen, wieder in alte Muster zurückzufallen, wieder zu hungern, aber Petra Berwert bleibt standhaft. Die Hausfrau und Mutter eines kleinen Mädchens hat für sich eine Entscheidung getroffen: Sie will gesund bleiben. Sie schiebt sich ein Praliné in den Mund und sagt: «Wie konnte ich früher nichts essen den ganzen Tag? Wie konnte ich hungern und mich quälen?» Sie ist froh, dass das vorbei ist.

Am 20. Februar findet im Selbsthilfecenter an der Jupiterstrasse 42 ein Infoanlass zum Thema Magersucht statt. Interessierte melden sich unter 043 288 88 88. Petra Berwert wird von ihren Erfahrungen berichten. Sie erzählt ihre Geschichte auch an Schulen.

www.selbsthilfecenter.ch

Infobox:

3,5 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind im Laufe ihres Lebens von einer Essstörung betroffen. Bei den Frauen ist der Wert mit 5,3 Prozent höher als bei den Männern mit 1,5 Prozent. Dies belegt die Studie «Prävalenz von Essstörungen in der Schweiz», in der ein Team der Uni Zürich im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit erstmals untersucht hat, wie verbreitet Essstörungen in der Schweiz sind. Dazu befragte es 10 000 Personen zwischen 15 und 60 zu ihrem Essverhalten. Wie Pro Juventute mitteilt, haben die Behandlungen von Magersüchtigen in den letzten drei Jahren um 30 Prozent zugenommen. Früher sei eine typische Magersuchtpatientin 15 Jahre alt gewesen, heute betreffe es teilweise bereits 9-jährige Mädchen. 

zurück zu Porträt

Artikel bewerten

Gefällt mir 1 ·  
Noch nicht bewertet.

Leserkommentare

Nicola Winzer - Nein, es sind nicht "pubertierende Mädchen, die der Magersucht verfallen, weil sie sich von den perfekt retuschierten Fotos in den Hochglanzmagazinen unter Druck gesetzt fühlen". Wir Frauen sind nicht so dumm und ferngesteuert. Es gibt diesen selten
mehr anzeigen ...

Vor 9 Jahren 2 Monaten  · 
Noch nicht bewertet.