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Porträt

"Ich wollte mir ganz einfach das Recht nehmen, anders zu sein, anders zu denken." Bild: JS

Kacem, Allah und die Menschenwürde

Von: Jan Strobel

15. Februar 2012

Der 22-jährige Marokkaner Kacem El Ghazzali schreibt für Menschenrechte und gegen Allah – und riskiert damit sein Leben.

Neulich, erzählt Kacem El Ghazzali, habe ihn sein kleiner Bruder am Telefon gefragt, wo Allah denn zu finden sei. El Ghazzali schickte ihm das Satellitenbild der Erde, und der Bruder, ratlos vor dem gähnenden Schwarz des Kosmos, konnte Allah nicht finden. El Ghazzali lächelt in sein Bierglas hinein. Wenn er seinen Kopf etwas senkt, wird die Narbe an seinem Haaransatz sichtbar. Sie ist die Spur des Hasses, der ein würdevolles Leben in seiner Heimat Marokko unmöglich machte. Der 22-Jährige hat den grösstmöglichen Fehler begangen, den ein Muslim begehen kann: Er zieht den Islam in Zweifel, die Allmacht des Propheten. Er bekennt sich zum Atheismus, zum freien Denken und schreibt im Internet gegen den Koran an, gegen die Knechtung der Frau und die Verfolgung von Homosexuellen. Er kritisiert die Gültigkeit der Scharia, will das Korsett sprengen, das seine Individualität im Keim erstickt. Mit seinem Blog öffnete er in Marokko die Büchse der Pandora – er ist der «Infidel», der Ungläubige, und somit für die Islamisten ein Todeskandidat.

Er weigert sich zu schweigen
Unser Gespräch findet in Zürich statt. Seinen genauen Aufenthaltsort kann er auch nach seiner Flucht in die Schweiz nicht bekannt geben. Seine Aktivitäten im Internet werden genau verfolgt und mit unverhohlenen Drohungen kommentiert. Er hätte schweigen, hätte sich gottgefällig in ein System einfügen können, in dem zu hartnäckiges Hinterfragen nicht erwünscht ist.

Sein Vater hätte seinen Sohn gern als Imam gesehen. Er schickte ihn zum Koranstudium nach Meknes. «Schon der erste Tag war ein Schock. Die Lehrer gaben mir einen anderen Namen. Ich durfte meine Jeans nicht mehr tragen. Meine Identität sollte ganz im Dienst Allahs stehen», erzählt El Ghazzali. Sein Geist begann sich zu sträuben. Was war mit dem Islam geschehen, dass die Lehrer in Meknes Werke einst bedeutender arabischer Gelehrter als Teufelswerk diffamierten oder sogar die Mondlandung zum westlichen Hirngespinst erklärten. «Eine Debatte fand nicht statt. Mir wurde bewusst, dass der Islam für mich keine Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bietet. Ich beschloss, die Koranschule zu verlassen und schrieb mich im Gymnasium ein. Als Schwerpunktfächer wählte ich Mathematik und Philosophie.»

Immer mehr brach er mit der Religion. Wenn die Familie am Ramadan fastete, schloss er sich in der Toilette ein, um heimlich zu essen. Schliesslich entdeckte er das Internet als Plattform für seinen Freiheitswillen. «Ich wollte mir ganz einfach das Recht nehmen, anders zu sein, anders zu denken», erklärt El Ghazzali. Er schaltete seinen eigenen Blog auf, in dem er unter Pseudonym seine Zweifel am Islam niederschrieb.

Nach einem Jahr bedrohte ihn jemand offen auf seiner Facebookseite. Man solle ihn «abschlachten wie ein Schaf». Bis heute weiss El Ghazzali nicht, wie seine Gegner auf seinen wahre Identität gekommen sind. Es begann eine regelrechte Jagd. «Nach kurzer Zeit wussten alle Bescheid. Die Lehrer im Gymnasium begannen gegen mich zu hetzen.» Sie beschimpften ihn als «Juden» und «Feind des Islam und von König Mohammed VI.» Mitschüler bewarfen ihn mit Steinen. Als El Ghazzali beim Direktor der Schule protestieren wollte, schlug der ihn zusammen. Es war dieser Moment, sagt El Ghazzali, in dem für ihn offen zutage trat, wie sehr sich im Islam die Gewalt mit der Kultur verbündet habe. «Ich musste zu meinen Überzeugungen stehen und trat die Flucht nach vorne an. Ich bloggte unter meinem richtigen Namen.» Er versteckte sich bei Freunden, trat in Verbindung zu Menschenrechtsorganisationen und anderen atheistischen Bloggern im arabischen Raum. Nachdem der französische Nachrichtensender France 24 ein Interview mit El Ghazzali ausgestrahlt hatte, stand sein Leben mehr denn je auf dem Spiel. In Marokko gab es für ihn keine Zukunft mehr. «Ich kontaktierte den Schweizer Botschafter in Rabat, erzählte ihm meine Geschichte.» Nach einem fünfstündigen Gespräch erhielt er ein Visum und reiste im März 2011 in die Schweiz ein.

Verachtung, Lügen, Diebstahl
Mithilfe der Freidenker-Vereinigung Schweiz konnte sich El Ghazzali nach Stationen in Auffanglagern in einer kleinen Wohnung einrichten. Unermüdlich bloggt er von hier aus weiter, auf Arabisch und Englisch. Er schreibt seine Gedanken über die Burka nieder, prangert offen auch die Zustände in den Auffanglagern an. Die Einstellung vieler Flüchtlinge habe ihn tief schockiert, bekennt El Ghazzali. «Ich habe erwartet, auf Gleichgesinnte zu treffen, stattdessen erlebte ich pure Verachtung, Lügen und Diebstahl.» Er habe schnell festgestellt, dass er mit seiner Einstellung auch hierzulande an einem Tabu rüttle. «Gerade Politiker haben Angst, sich kritisch und ohne ideologische Scheuklappen mit dem Islam auseinanderzusetzen.»

El Ghazzali ist überzeugt, dass sich Europa in einer Integrationssackgasse befindet, dass sich Islamisten demokratischer Institutionen und Werte bedienten, um eine schleichende Islamisierung voranzutreiben. Dass er damit gegen die herrschende politische Korrektheit verstösst, ist ihm durchaus bewusst. Es überrascht ihn, wie unreflektiert gewisse Linke zum Beispiel das Tragen einer Burka verteidigen, ebenso, wie sich Rechte die Ängste der Bevölkerung für ihre Ziele zunutze machen. «Ich musste mir schon von Schweizern anhören, ich sei ein Rassist. Das Verständnis für die inneren Strukturen des Islam geht diesen Leuten völlig ab», sagt El Ghazzali.

Das zeige sich auch im hiesigen Umgang mit den Umwälzungen in der arabischen Welt. «Von einer demokratischen Wende im westlichen Sinn kann dort keine Rede sein.» El Ghazzali vergleicht die Situation mit derjenigen im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts, als sich immer mehr Gesellschaften gegen die autokratischen Regimes und die Allmacht der Kirche erhoben. «Als Frucht dieses Wandels entstand in Europa die Aufklärung, eine Blüte der Philosophie. In der islamischen Welt allerdings ist das Umgekehrte im Gang. Der Islam wird als Lösung für die Zukunft angesehen.» Vor unserem Gespräch hatte El Ghazzali mit Ägypten telefoniert. Er sprach mit der Bloggerin Aliaa al-Mahdi, die es wagte, sich nackt in ihrem Blog zu präsentieren. Mittlerweile ist sie untergetaucht.

Links zu Kacem El Ghazzali:

www.atheistica.com

www.cyberdissidents.org

www.facebook.com/Kaceeem 

Lesen Sie auch: Sie haben abgeschworen.
www.tagblattzuerich.ch/aktuell/portraet/portraet-detail/article/sie-haben-abgeschworen.html

 

 

 

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