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Porträt

Mit den alten Römern gegen den Zeitgeist

Von: Jan Strobel

19. März 2013

Judith Hindermann ist Lateinlehrerin und gibt an der Migros-Klubschule Kurse für unerschrockene Anfänger. Für die 34-Jährige ist die Sprache Vergils und Caesars alles andere als tot.

Kaum hatte der frisch gewählte Papst den Balkon des Petersdoms betreten, um mit salbungsvollen Worten zur Menge der Gläubigen zu sprechen, da schienen plötzlich auch die Titelsetzer in den Zeitungsredaktionen wundersam erleuchtet – und zwar mit Lateinkenntnissen. «Habemus Franziskus!» frohlockte zum Beispiel «20 Minuten» auf seiner Frontseite. Aber so manchem Lateinkenner müssen beim Anblick dieser Schlagzeile die Haare zu Berge gestanden sein, ein regelrechter Furor könnte ihn erfasst haben. Oder vielleicht reichte es zu einem bedauernden Lächeln, wie bei Lateinlehrerin Judith Hindermann. «Eigentlich müsste es ja ‹Habemus Franziskum› heissen. Franziskus ist hier das Akkusativobjekt», sagt die 34-Jährige amüsiert, während sie das ausgeschnittene Corpus Delicti an die Wandtafel der Migros-Klubschule hängt.

In dieser Schlagzeile liegt im Grunde genommen die ganze Krux dieser vermeintlich «toten Sprache». Das Latein, die Ursprache Europas, verschwindet zunehmend aus dem Bewusstsein der Gesellschaft. Wäre der Titel in Deutsch, Französisch oder Englisch verfasst gewesen, wäre ein solch happiger Grammatikfehler natürlich sofort zum Anlass von Häme geworden. Doch es blieb vorwiegend ruhig.

«Latein ist zeitlos»
Das nicht totzukriegende Gerede von der toten Sprache, für Judith Hindermann hat es nichts mit der Wirklichkeit zu tun. «Latein ist zeitlos. Wir begegnen ihm in unserem Alltag auf Schritt und Tritt. Sie sehen einen Audi auf der Strasse, schon ist es da. Audi! bedeutet Horch! Oder dann im Restaurant: Sie bestellen ein Sinalco und merken nicht einmal, dass Sie jetzt gerade lateinisch gesprochen haben. Es heisst: Ohne Alkohol.»

Aus Judith Hindermann spricht die reinste Passion. Sie möchte das Latein fördern, es einem breiteren Publikum zugänglich machen. «Es gibt in der Schweiz eine Gegenbewegung, die das Latein nicht einfach sterben lassen will.» Sie schwärmt von den erotomanen Dichtern Ovid oder Catull wie andere von «Fifty Shades of Grey», nur dass die alten Römer natürlich wirklich noch wussten, wie sie die Erotik in kunstvolle Sprache verpacken konnten. Dabei deckten sie das Leben nicht mit grossem Gerede zu, sondern verschrieben sich einem praktischen, pragmatischen Denken, denn «Latein», sagt Judith Hindermann, «ist eine extrem logische, ja eigentlich mathematisch reine Sprache. Da gibt es kein Chaos, kein Wort zu viel.»

Genau dieses System des Lateins ist es auch, das Judith Hindermann immer aufs Neue fasziniert, wenn sie ihren Schülern in der Migros-Klubschule zum Beispiel das Wesen und die Rhythmen der Versmasse beizubringen versucht. Deshalb auch hatte sie sich entschieden, nach der Matur an der Kantonsschule Aarau an der Uni Bern Latein zu studieren und schliesslich zu doktorieren. Pentameter, Hexameter, elegisches Distichon – was Generationen von Gymnasiasten zu Verzweiflung und trotziger Abwehr trieb, für die Lehrerin ist das die reine Vollkommenheit. Wenn Judith Hindermann über die Tücken das Participium coniunctum oder des Accusativus cum infinitivo nachdenkt, wird deutlich, wie sehr die junge Frau die Klarheit liebt. Sie selbst bezeichnet sich als eine Pragmatikerin. «Lateinliebhaber haben tatsächlich einen ganz eigenen Charakter. Sie sind keine Chaoten, sondern lieben die Ordnung.» Wer Latein beherrsche, ist sie überzeugt, bekomme einen tieferen Sinn für die Welt und ihre Zusammenhänge, die uns umgeben.

Doch mit dieser Ansicht steht Judith Hindermann zunehmend allein da, zumindest, wenn man den Zahlen glaubt. Die zeigen: Das Latein verabschiedet sich mehr und mehr aus dem Bildungssystem. Für 2011 zählte das Bundesamt für Statistik schweizweit noch gerade mal 1045 Schülerinnen und Schüler, die ihre Matur mit Schwerpunkfach Alte Sprachen, also Latein und Griechisch, abgeschlossen haben. Das sind nicht einmal 6 Prozent aller Maturanden. Auch an den Unis sieht es nicht besser aus für die Sprache Vergils und Caesars. Die Unis in Basel und Bern haben das Latinum weitgehend abgeschafft. In Luzern brauchen die Studenten überhaupt keine Lateinkenntnisse mehr. Die einzige «Alma Mater» in der Deutschschweiz, die diesen Namen eigentlich wirklich noch verdient, ist die Uni Zürich, die als Lateinhochburg gilt. Für viele Fächer der Philosophisch-historischen und der Theologischen Fakultät ist hier Lateinbüffeln nach wie vor Pflicht. Dennoch wird auch an der Limmat immer wieder darüber diskutiert, ob das Lateinobligatorium wirklich noch zeitgemäss ist oder für die Konkurrenzfähigkeit einer Uni nicht eher ein lästiger Klotz am Bein, ein Problema sui generis.

Aus reinem Bildungshunger
Angesichts dieser Entwicklung wirkt es fast schon mutig, dass die Migros-Klubschule Lateinkurse in ihrem Angebot führt. Vier Schüler sitzen an diesem Donnerstagabend vor Judith Hindermann. Sie haben sich aus purem Interesse, aus Bildungshunger, angemeldet. Nur einer von ihnen hatte in seiner Schulzeit Lateinunterricht, die anderen sind Anfänger. «Ich bewundere es, wenn Erwachsene Latein aus Neugier lernen wollen, ohne, dass sie es für den Beruf oder fürs Studium brauchen», sagt Lehrerin Hindermann.

Die Gruppe beugt sich konzentriert über das Schulbuch und diskutiert darüber, ob man das Participium coniunctum in der Textaufgabe nun kausal, temporal oder konzessiv übersetzen soll. Es klingt für eine Weile tatsächlich so wie im ungeliebten Mathematikunterricht, wenn man eine Gleichung auflösen muss und sich für einen ganz kurzen Moment ein anderes Leben wünscht. Aber dann bringt Judith Hindermann eine Gedichtzeile des lüsternen Catull ins Spiel, und die graue Theorie verwandelt sich in Sinnlichkeit: «Odi et amo. Quare id faciam, fortasse requiris. Nescio, sed fieri sentio et excrucior.» – «Ach, ich hasse und ich liebe. Du fragst, warum ich das tue. Weiss nicht. Ich fühle nur: Es geschieht und tut weh.» 

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