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Reportage

Ausblick vom Zürichsee in die Glarner und Bündner Alpen. Viele Zürcher Strassen haben ihre Namen von den umliegenden Bergen. Bild: H. Wehrli

Die Strassen der Sehnsucht

Von: Urs Hardegger

28. Juni 2016

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt jede zweite Woche eine solche Story. Heute: die Bergstrassen.

«Warum heisst die Bristenstrasse so?» Die Antwort auf die Frage eines «Tagblatt»-Lesers klingt einfach. Weil die Strasse in Altstetten nach dem Bristenstock in den Urneralpen benannt ist. Dies erklärt jedoch noch nicht alles. Zum Beispiel die Frage, warum auffällig viele Zürcher Strassen Bergnamen tragen. Besonders wenn man vom Paradeplatz durch die Enge Richtung Wollishofen wandert, finden sich auf zahlreichen Strassenschildern Bezüge zu Bergen und Pässen. Ob Mythenquai, Glärnisch-, Gotthard-, Tödi-, Clariden-, Kurfirsten-, Scheidegg- oder Speerstrasse, die Namen bilden nicht nur das Bergpanorama ab, das man an der Seepromenade bei schönem Wetter geniessen kann. Sie führen uns ebenso die Stadt-Land-Wahrnehmung des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts vor Augen, als die meisten Benennungen erfolgten. Die Sehnsucht nach den Bergen entstand zur gleichen Zeit, als sich das beschauliche Zürich in eine Grossstadt verwandelte. Damals verdreifachte sich die Bevölkerung in nur vier Jahrzehnten. Durch Zuwanderung, Geburtenüberschuss und Fabrikproduktion veränderten sich die Arbeitsbedingungen und Lebensumstände der Menschen grundlegend. Neu erworbener Reichtum der einen konstrastierte mit den erbärmlichsten Lebens­verhältnissen der andern.

Moloch, der krank macht

Umbrüche rufen Ängste hervor. Das war damals nicht anders. Ob katholische Arbeiter aus der Innerschweiz und Italien oder sozialistische Flüchtlinge aus Deutschland, die fremden Gewohnheiten und radikalen Veränderungen ängstigten und verwandelten den Fortschrittsglauben zunehmend in einen düsteren Pessimismus. Die Stadt erschien plötzlich als krank machender Moloch, der traditionelle Bindungen zerstört und Sitten verroht. Als Gegensatz zur vermeintlich degenerierten Stadt entstand das Bild einer unberührten Natur und «heilen Bergwelt». Eine solche Hirten- und Bergromantik entwarf zum Beispiel Johanna ­Spyri in ihrem berühmten «Heidi»-Roman. Es war kein Zufall, dass die Geschichte von Heidi, Geissen­peter und Alpöhi zum weltweiten Bestseller wurde.

Gleichzeitig eroberten die Städter die Bergwelt. Es gehörte im gehobenen Bürgertum bald zum guten Ton, sich in der Sommerfrische der gesunden Höhenluft zu erholen und sich der heilenden Wirkung der Thermalquellen und Molkenkuren hinzugeben. Selbst vor den höchsten Gipfeln schreckte man nicht mehr zurück. Die zu Beginn vorwiegend britischen Abenteurer wurden zu Hause wie Helden gefeiert. Was 1811 mit der Erstbesteigung der Jungfrau begann, fand 1865 mit dem tödlichen Wettlauf auf das Matterhorn einen ersten dramatischen Höhepunkt.

Keine doppelten Namen

In einem anderen Zusammenhang dürften übrigens die vielen «Bergstrassen» in Altstetten stehen. Dort wurden Mürtschen-, Bristen-, Calanda-, Albula-, Rauti-, Furka- und Grimselstrasse nach Bergen oder Pässen benannt. Altstetten musste vor der Eingemeindung 1934 zahlreiche Strassen umbenennen. Da griff man auf geografische Bezeichnungen zurück, um doppelte Benennungen mit Strassen in andern Quartieren zu verhindern. Die Stations- wurde zur Bristenstrasse, weil beim Bahnhof Wiedikon bereits eine Strasse gleichen Namens bestand.

So vielfältig die «Bergstrassen» auch sein mögen, eines haben sie gemeinsam: Nur wenig an ihnen erinnert an heile Welt und unberührte Natur. Verflogen ist jedoch die düstere Wahrnehmung der Stadt. Im Gegenteil, das Stadtleben ist längst wieder chic und trendig geworden. Erholung von der Hektik des Stadtlebens verspricht ein Ausflug in die Glarner, Bündner oder Innerschweizer Alpen noch immer.

Quellen:
Siegenthaler, Hansjörg: Die Schweiz in der «Krise des Fin de Siècle», Zürich 1997.
Grupp, Peter: Faszination Berg. Die Geschichte des Alpinismus, Köln 2008.

Lesen Sie am 8. Juli den Beitrag zur Scheuchzerstrasse.

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