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Reportage

Carmen Spuler hat das Downsyndrom und arbeitet seit 40 Jahren als Flechterin in der Zürcher Stiftung St. Jakob. Bild: GH

Die unsichtbaren Retter

Von: Ginger Hebel

12. März 2019

Seit 1902 werden in der Stuhlflechterei der Zürcher Stiftung St. Jakob Sessel, Stühle und Liegen aus Rattan, Weiden, Binsen und PVC repariert. Von Menschen mit einer Beeinträchtigung. Carmen Spuler hat das Downsyndrom und arbeitet seit 40 Jahren im Betrieb.

Flechter Christoph Niggli repariert einen alten Holzstuhl aus Wienergeflecht – auch Jonc genannt – mit Rattan. Er ist fleissig, flink und still am Werk und flicht geduldig, bis der kaputte Stuhl wieder ganz ist, fast wie neu. «Schön sieht das aus», sagt Gruppenleiterin Kathrin Weber, doch Christoph Niggli kann sein vollbrachtes Werk nicht sehen, er ist blind. Seit 1982 arbeitet er in der Stuhlflechterei der Zürcher Sozialstiftung St. Jakob, dem letzten Flechtbetrieb der Stadt. 36 Flechterinnen und Flechter arbeiten im geschützten Rahmen unter Anleitung. Sie reparieren und renovieren Sessel, Stühle und Liegen aus Rattan, Weiden, Binsen, Peddigrohr, Papier- und PVC-Schnur. Geflochten wird ausschliesslich von Hand, auf Wunsch stellen sie auch die Flechtmatten selber her und stimmen die Farben neu ab, ganz so, wie der Kunde es möchte. Erbstücke zu retten und gleichzeitig ein altes Kunsthandwerk zu erhalten, sei die Motivation aller.

Flechterei als Grundstein

Vor über hundert Jahren wurde die Stuhlflechterei nahe der St. Jakobskirche als Werkstätte für blinde Männer eröffnet und mit ihr der Grundstein für die heutige Stiftung St. Jakob gelegt. Sie engagiert sich für die Integration von Menschen mit einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung und bietet 420 geschützte Arbeitsplätze in den Bereichen Elektronik, Gebäude- und Gartenpflege, Ausrüsterei, Digitalisierung, Schreinerei, Flechterei, Gastronomie (Bäckerei, Confiserie, Original Züri-Tirggel) sowie Logistik. 110 Fachangestellte begleiten die Mitarbeitenden bei der Arbeit. «Wir bieten ihnen einen geregelten Tagesablauf, Arbeit und Aktivität, um ihnen ein sinnerfülltes Leben zu ermöglichen», sagt Geschäftsführer Alexander Howden.

Die Mitarbeiter sind treue Seelen und oft seit Jahrzehnten im Dienst, so auch Carmen Spuler. Sie hat das Downsyndrom und arbeitet seit 40 Jahren als Flechterin. Ihre Teamkolleginnen und -kollegen bewundern sie für ihre ausgefeilte Knopftechnik, aber auch für ihre Engelsgeduld. Auf die Frage, was das Schönste sei an ihrem Beruf, sagt sie: «schaffe», lächelt keck und flicht weiter. Auch Sarah Neukomm mag ihre Arbeit in der Flechterei und die gute Atmosphäre im Team. Sie hatte schon viele Jobs ausserhalb der geschützten Werkstatt, «doch es lief leider ziemlich viel schief in meinem Leben», so das Fazit der 35-Jährigen. Ihr Perfektionismus komme ihr bei dieser Arbeit mehr als zugute.

Jeder hier darf – anders als auf dem freien Markt – in seinem eigenen Tempo arbeiten, ganz ohne Leistungsdruck. Die Reparaturarbeiten und -kosten werden im persönlichen Gespräch mit den Fachmitarbeitenden besprochen, die Lieferfrist beträgt ca. sechs Wochen. «Sie arbeiten alle gewissenhaft und höchst sorgfältig», versichert Gruppenleiterin Kathrin Weber. Tim Stark, Abteilungsleiter Schreinerei und Flechterei, kann dem nur beipflichten. «Jeder wird hier so akzeptiert, wie er ist, vorurteilslos, das imponiert mir.»

Stiftung St. Jakob
Viaduktstrasse 20
8005 Zürich
Tel. 044 295 93 31

www.st-jakob.ch/flechterei

 

 

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