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Reportage

Ein Zeitungsverkäufer am Hauptbahnhof: Die Presse verkündet am 8. Mai 1945 das Kriegsende in Europa. Bild: Keystone

"Ein Tor geht auf, Fesseln fallen"

Von: Jan Strobel

28. April 2015

70 Jahre Kriegsende: Am 8. Mai 1945 herrschte in Zürich der Ausnahmezustand. Die Zeitungen verkündeten das Ende des Kriegs in Europa. Wir zeigen Zürcher Impressionen vom Friedenstag, der die Welt veränderte.

Bereits in der Abendausgabe der NZZ vom Montag, dem 7. Mai 1945, war die Meldung zu lesen gewesen: «Kapitulation der deutschen Truppen». Die Nachricht blieb allerdings noch unbestätigt. Erst am folgenden Morgen, dem 8. Mai, herrschte an der Falkenstrasse Gewissheit. Die Schlagzeile vermeldete zunächst die «Gesamtkapitulation der deutschen Truppen», um in der Mittagsausgabe das Ereignis in die Worte zu fassen, die es wirklich bedeutete: «Kriegsende in Europa».

Auch in Zürich schien es an diesem fast schon frühsommerlichen Morgen so, als ob ein dunkler, dämonenhafter Schatten, der über dem Alltag seiner Bewohner lastete, sich im freundlichen Blau des Himmels einfach aufgelöst hätte, um einem neuen Licht Platz zu machen. Viele Zürcher spürten: Die Welt war eine andere, eine bessere geworden. Georg Thürer, Schweizer Schriftsteller und Aktivist gegen Nationalsozialismus und Faschismus, drückte die Stimmung an diesem Friedenstag in einem NZZ-Artikel so aus: «Von unser aller Seele ist ein Alpdruck gewichen. Jeder Mensch, der seinen Sinn für Freiheit nicht verkümmern liess, kann im innersten Herzen leise nachempfinden, was in diesen Wochen Millionen Brüder und Schwestern überkam: ein Tor geht auf, Fesseln fallen, Augen leuchten, und der Morgenstern steht in alter Höhe über uns.» Die Bevölkerung strömte auf die Strassen der Stadt. Die Menge stand auf der Quaibrücke und hörte das Friedensgeläut der Kirchen. Das Radio sendete den Choral «Nun danket alle Gott». Auf dem Bahnhofplatz spielte die Heilsarmee die Nationalhymne, beim Bellevue schlugen junge Soldaten neben dem Ackerfeld auf der Sechseläutenwiese Trommelwirbel. Die Geschäfte blieben «wegen Friedens geschlossen». Für die Schüler bedeutete dieser 8. Mai ein schulfreier Tag. Zusammen mit Pfadfindern und Jugendgruppen zogen sie mit Leiterwagen, Trommeln und Fahnen durch die Innenstadt und sammelten Geld für die «Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten», mit der Hilfstätigkeiten in europäischen Ländern, auch in Deutschland, finanziert wurden. Die Spende ermöglichte es unter anderem auch, Tausende Kinder aus den zerbombten Städten Deutschlands und Österreichs in die Schweiz einreisen zu lassen.

Zur gleichen Zeit versammelten sich auf dem Helvetiaplatz die Sozialdemokraten und die Sozialistische Arbeiterjugend zu einer Kundgebung. Hier hielt auch Stadtpräsident Adolf Lüchinger seine Rede zur Waffenruhe. Auf den Ruinen, rief er der Menge zu, müsse eine neue Welt aufgebaut werden. Nachfolgende Redner, hielt die NZZ fest, drückten ihre Bewunderung für die siegreiche Sowjetunion aus «und wetterten gegen den ‹Kapitalismus› und die ‹Kriegsgewinnler›.» Schon am ersten Friedenstag kündeten sich hier die Konflikte an, die in den kommenden Jahrzehnten die Politik prägen sollten.

Wenn Georg Thürer von den Toren schrieb, die an diesem Tag aufgingen, so waren es auch die Tore zu unterdrückten Aggressionen und Ängsten, die sich jetzt ungehemmt entladen konnten. Eine wütende Gruppe versammelte sich vor dem Deutschen Verkehrsbüro an der Bahnhofstrasse (Lesen Sie dazu hier den Bericht eines Zeitzeugen). In den folgenden Tagen und Wochen kam es zu Hausdurchsuchungen und Säuberungsaktionen gegenüber Nazifunktionären und Deutschen, die im Verdacht standen, mit den Nazis sympathisiert zu haben. Auf Anordnung des Bundesrates wurde die
NSDAP, Landesgruppe Schweiz, aufgelöst und deren Leiter Wilhelm Stengel ausgewiesen. Im deutschen Konsulat versuchten die Nazi-Beamten den Ausnahmezustand zu nutzen: Aus dem Kamin des Gebäudes, erzählten Augenzeugen, soll eine graue Rauchfahne gestiegen sein – als letzter Rest verbrannter Akten.

Bahnhofstrasse: Eine wütende Menge zerstört das Deutsche Verkehrsbüro. Bild: Keystone

Sammeln für die «Schweizer Spende»: Mädchen ziehen mit einem geschmückten Leiterwagen über die Quaibrücke. Bild: Keystone

Münsterbrücke: Die Bevölkerung strömt zum Friedensfest auf die Strassen. Bild: Keystone

Helvetiaplatz: Stadtpräsident Adolf Lüchinger spricht vor Sozialdemokraten. Bild: Schweizerisches Sozialarchiv

Rationiertes Leben: Lebensmittelkarte vom Mai 1945. Bild: Schweizerisches Sozialarchiv

Urania: Aufführung des mobilen Stücks «Tram-Theater» zugunsten der «Schweizer Spende». Bild: Schweizerisches Sozialarchiv

Postkarte für die «Schweizer Spende»: Hilfe für kriegsgeschädigte Kinder. Bild: Schweizerisches Sozialarchiv

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