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Reportage

Foto: Helena Wehrli

Pflüger hätte Freude an «seiner» Strasse

Von: Urs Hardegger

19. August 2014

Jede Strasse in Zürich hat ihre Geschichte. Das Tagblatt erzählt in einer neuen Serie jede zweite Woche so eine Story. Heute: Paul-Pflüger-Strasse.

Wäre er enttäuscht gewesen, wenn er die Strasse gesehen hätte, die seinen Namen trägt? Wenn, dann vielleicht, weil es eine Sackgasse ist. Ausgerechnet er, der sich sein Leben lang für die sozial Schwachen engagiert hat, ihnen Hoffnung machte, erhält nun am Stadtrand von Altstetten zwischen Autobahn und Limmat eine Strasse ohne Ausweg.

Es ist von Paul Pflüger (1865–1947) die Rede, dem streitbaren sozialistischen Pfarrer aus Zürich-­Aussersihl, der mit seinem Wirken zu Beginn des letzten Jahrhunderts bis heute in Zürich seine Spuren hinterlassen hat. Aufgeschreckt vom Massenelend, das Industrialisierung und freie Marktwirtschaft auf ihrem Siegeszug zurückgelassen hatten, wendete sich der rote Pfarrer, wie er genannt wurde, in den 1890er-Jahren dem Sozialismus zu. Für solch ungerechte Verhältnisse hatte Jesus sein Leben nicht geopfert, niemals hätte der Sohn Gottes die stinkigen und ungesunden Existenzbedingungen akzeptiert, in denen ein Grossteil der Arbeiter darben musste, davon war Pflüger überzeugt.

Deshalb begann er in seinen Predigten die sozialen Zustände zu geisseln, griff die Herrschenden und die mit ihnen verbandelte Kirchenobrigkeit frontal an, wollte das Himmelreich nicht erst im Jenseits, sondern bereits auf Erden verwirklicht sehen.

Das Projekt des Sozialismus muss im Kleinen verwirklicht werden, auf lokaler Ebene. Darum liess er sich in den Stadtrat wählen und engagierte sich für den Ausbau des Sozial- und Armenwesens. Nicht zu Unrecht darf er als einer der Mitbegründer des modernen Sozialstaates gelten. Doch in einem blieb Pflüger zeitlebens Pfarrer. Er war ein unver­besserlicher Moralist, sah überall Sünde und Laster, wetterte gegen ­Alkohol, Prostitution und vorehelichen Geschlechtsverkehr, und selbst Ballettaufführungen stellten für ihn einen Hort der Unzucht dar. Genuss war nicht seine Sache, er war ein «Chrampfer», gab unermüdlich Anstösse und setzte Zeichen, ganz gleich ob als Pfarrer, Politiker, Stadtrat oder Gründer des Sozial­archivs. Vehement setzte er sich für Genossenschaftswohnungen und Familiengärten ein, denn gesundes Wohnen und freie Natur sind eine Voraussetzung, dass gesunde Kinder heranwachsen und zukünftige Generationen es einmal besser haben werden.

Wenn Pflüger heute die Strasse entlangflanieren würde, er das Treiben der vielen Schrebergärtner beobachtete, die sich beidseits der Fahrbahn tummeln, es hätte ihm Freude bereitet. Denn wo, wenn nicht hier, treffen Menschen aller Kulturen friedlich aufeinander und belohnt der Boden die harte Arbeit der Hände durch reiche Ernte? Wo, wenn nicht hier, können sich die Menschen ihr kleines Paradies erschaffen? Ihr Himmelreich auf ­Erden. 


Pflüger, Paul: Meine geistige Entwicklung, Zürich 1920.
Hausammann, Margret: Paul Pflüger 1865–1947, Pfarrer und Sozial­demokrat, Zürich 1987.

Lesen Sie hier am 3. September den nächsten Beitrag zum Orelliweg.

 

Interview mit Autor Urs Hardegger: Warum er über Zürichs Strassen schreibt

 

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