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Reportage

Die "Surprise"-Verkäufer Ewald Furrer und Hans Peter Meier führen durch das Zürich der Obdachlosen. Bild: CLA

Unterwegs mit den Ärmsten

Von: Clarissa Rohrbach

17. November 2014

"Surprise"-Verkäufer machen jetzt Stadttouren. Sie zeigen ein Zürich aus Notschlafstellen und Spaghetti für 3 Franken. Wir gingen mit.

«Was man nicht will, das schiebt man an den Rand. Gell Ewald?» Hans Peter Meier (56) steht mit roter «Surprise»-Jacke vor der St.-Jakobs-Kirche. Hier bekommt er an Weihnachten ein kostenloses Festmahl. «Ja, deswegen verscharrte man früher die Pesttoten hier ausserhalb der Stadtgrenze. Jetzt wird der Kreis 4 schick und sie vertreiben uns. Ich glaube das heisst Gentrifizierung, oder?», antwortet Ewald Furrer (48). Die beiden Obdachlosen haben den Stauffacher als Startpunkt ihres Rundgangs gewählt. Mit der «Surprise»-Tour führen sie durch ein Zürich, das der Normalbürger nicht kennt, eine Stadt aus Notschlafstellen und Mittagstischen. «Übrigens: Wir stehen hier auf Kirchenboden. Theoretisch könnte ich hier schlafen und die Polizei darf mich nicht verjagen», fügt Furrer hinzu. Hier erfährt man Wissenswertes, um sich in Zürich ohne Geld durchzuschlagen. Denn: Es kann jedem passieren.


Wir laufen los. Erste Station ist der Hundesalon Dolly an der Grüngasse. Hier gastiert jeden Montagnachmittag der Gassentierarzt. Die Hunde werden entwurmt, entfloht, gechippt; die Besitzer zahlen nur die Medikamente. Die beiden Stadtführer erklären, wie wichtig die Tiere sind. Sie kennen Obdachlose, die nur noch einen Bezug zu ihrem Hund haben. Die sich isolieren und in den Wald vor der Gesellschaft flüchten. «Die Polizei kommt, die sip kommt, alle versuchen, uns zu reintegrieren, aber wir wollen das nicht unbedingt», sagt Furrer.


Der ehemalige Pressefotograf hat das Obdachlosenleben bewusst gewählt, es sei die letzte Freiheit. Er war ein Workaholic und mit Ex-Stadtpräsident Elmar Ledergerber per du, bewältigte drei Jobs auf einmal, hatte als 20-Jähriger so viel Lohn, dass seine Eltern grosse Augen machten. Um aber den Stress auszuhalten, trank er drei Flaschen Vodka pro Tag. Bis er ein Burnout erlitt. Heute schätzt er es, auf der Strasse zu schlafen und keine Verplichtungen zu haben.


Meier hingegen ist Sicherheit wichtig, er hat meistens eine Notunterkunft. Der ehemalige IT-Spezialist entwickelte Software für den Börsenhandel und führte ein Jetset-Leben. Bis im Jahr 2000 die New Economy-Blase platzte. Er verlor seinen Job, reinigte daraufhin die Strassen, trank viel und meldete sich schliesslich beim Sozialamt.


Um einen Schlafplatz zu bekommen, musste er zur Zentralen Abklärungs- und Vermittlungsstelle (ZAV) der Stadt Zürich. Dort stehen wir jetzt. «Es braucht Überwindung, um diese Schwelle zu übertreten. Man gibt zu, dass man Hilfe braucht.» Für Obdachlose seien Ämter und der ganze Papierkram sowieso ein rotes Tuch: «Man will doch nicht verwaltet werden», sagt Meier und hält die Türe für eine Frau mit Kopftuch und Kinderwagen offen. Aber die Sozialen Dienste seien wirklich gut, die fänden innerhalb eines Tages eine Lösung.


Wer in der Schweiz von Sozialhilfe lebt, bekommt 960 Franken für den Lebensunterhalt. Damit müssten Zürcher auch ein Monatsabo der VBZ lösen. Einige Schlaue wollen das Geld aber sparen und fahren schwarz. Und es gebe auch die notorischen Schwarzfahrer, wissen Meier und Furrer. «Sie lassen sich extra in der Winterzeit schnappen und bezahlen die Bussen nicht, damit sie dann im Gefängnis ein warmes Bett haben.» Sie zeigen auf das Bezirksgericht.


Von da aus gehts zum Bunker unter dem Kanzlei Schulhaus. Im Winter 1963, als der See zufror, setzte sich Pfarrer Sieber dafür ein, dass hier 60 Obdachlose schlafen durften. Damit wurde er bis heute zum wohl bekanntesten Wohltäter der Nation. «Kalte Winter können für uns tödlich sein», erklärt Furrer. Seit zehn Jahren hat er den gleichen Schlafplatz mitten in der City. Meier unterbricht und erzählt von einem Bekannten, der sogar auf den Champs-Élysées schlief, ohne dass ihn jemand sah. Man brauche nur ein Auge für die guten Plätzchen zu haben. Und die vier Kriterien müssen erfüllt sein: trocken, keine «Pisse», nicht videoüberwacht und ruhig. Wo Furrers Schlafplatz liegt, das bleibt ein Geheimnis, nur Meier weiss es, dem vertraue er.  Zwischen den Obdachlosen gebe es Solidarität, aber auch Kämpfe. Etwa um das gratis Essen der Schweizer Tafel. Oder die ewige Rivalität zwischen Alkis und Junkies: Jeder meint, seine Sucht sei weniger schlimm als die andere.


Ein Zahnloser spielt Klavier
Die sechs Stadtführer des Vereins «Surprise» bieten jede Woche fünf verschiedene  Touren à zwei Stunden an. Das Ziel: Vorurteile gegenüber Obdachlosen abbauen. Der soziale Abstieg bekommt ein Gesicht, die Randständigen entpuppen sich als äusserst munter und unkompliziert. Auch schon eine Gruppe von Unternehmensberatern in Krawatte sei mit ihnen um die Häuser gezogen. Die «Surprise»-Verkäufer sehen sich als selbständige Unternehmer. Sie kaufen die Hefte für 3,30 Franken pro Stück ein und verkaufen sie für 6 Franken. Rund acht Stunden am Tag stehen sie an den zugewiesenen Standorten: Meier am Bellevue, Furrer an der Europaallee. Sie wollen jetzt keine Sozialhilfe mehr, ihr Motto lautet «auch mit wenig Geld kann man in Würde leben.»


Wir gehen zum Spaghettiplausch des Netz4, ein Treffpunkt der methodistischen Kirche. Rund hundert Obdachlose haben die 3 Franken ins Kässeli geworfen und warten nun auf das Essen. Eine herausgeputzte Dame sitzt neben einem Mann in zerfetzter Jacke, ein zahnloser Herr spielt Klavier. Auf dem Tisch liegt ein Zettel, der über kostenlose Duschmöglichkeiten informiert.


Die beiden Obdachslosen eilen zur Kaserne. Dort ist  das Ambulatorium der Städtischen Gesundheitsdienste, wo sie ein Arzt gratis behandelt. «Wer auf der Gasse lebt hat häufig gesundheitliche Probleme.» Sie erzählen, wie die gynäkologische Sprechstunde entstanden ist, nachdem eine Drogenabhängige ihr Neugeborenes aus dem Fenster warf. Und dass man hier ohne Termin hereinspazieren kann. «Fixe Zeiten sind für uns Obdachlose eben ein Problem, wir haben Mühe sie einzuhalten.»


Und doch halten sie sich streng an die Routine der Angebote: ein Tee am Dienstag, eine Suppe am Mittwoch.  «Den Tag zu füllen, ist das grösste Problem», sagt Furrer.  Er muss seinen Schlafplatz um sechs Uhr früh räumen und darf erst um 24 Uhr zurück sein, sonst fliegt er auf. Manchmal läuft er zur Ikea in Spreitenbach und trinkt dort Kaffee: Das sind sechs Stunden Marschzeit hin und zurück plus drei Stunden Käfele. Ein Traumtag.

In der Schweiz gibt es rund 750 000 Armutsbetroffene. Der  Verein Surprise fördert seit 1997 die soziale Integration von benachteiligten Menschen. Das Strassenmagazin erscheint alle zwei Wochen. Rund 40 Obdachlose verkaufen es in Zürich auf der Strasse. Die sozialen Rundgänge kann jeder buchen unter 044 242 72 14 oder www.vereinsurprise.ch.

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