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Reportage

Ist nach einem Schriftsteller benannt: Meinrad-Lienert-Strasse. Bild: Helena Wehrli

Von der Verkehrsachse zur Quartieroase

Von: Urs Hardegger

16. September 2014

Jede Strasse in Zürich hat ihre Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt in einer Serie jede zweite Woche so eine Story. Heute: Meinrad-Lienert-Strasse.

Lange galt sie nicht als bevorzugte Wohnadresse. Auf beiden Seiten der Meinrad-Lienert-Strasse zwängten sich stündlich um die 1000 Personen- und 100 Lastwagen durch die Transitschneisen an der Seebahn- und Weststrasse. Dies hat sich geändert, seit Zürich umfahren und die Weststrasse sich zu ­einer Quartieroase gewandelt hat.

Man atmet wieder bessere Luft ein, gleichgültig ob zu Hause, in einer Bar oder einem mediterranen Lokal. Die babylonische Sprachenvielfalt verleiht der Strasse einen herben Charme, weitab von Hipness und Kultgehabe. Im Meyers erhalten auch Menschen ein Stück Heimat, die sonst nicht überall willkommen sind, in Nr. 15 lässt man Jugendlichen Raum, um ihren kommunistischen Utopien nachzuhängen, und Sozialprojekte finden hier eine Bleibe. Eine offene, vielseitige Strasse, schnell ist man mit den Menschen im Gespräch, zum Beispiel mit Heval, dem Kurden aus der nordirakischen Stadt Dohuk, der Produkte des täglichen Bedarfs verkauft. Vor acht Jahren als Asylbewerber auf verschlungenen Wegen in die Schweiz gelangt, bringt er den Unterschied zu seinem Herkunftsland so auf den Punkt: «Die Stadt hat mir viel gegeben. Hier fühle ich mich als Mensch, ich habe Rechte, und die gelten für alle.» Zumindest seit vier Jahren, seit er anerkannter Flüchtling ist, möchte man hinzufügen.

Nur in wenigen Regalen findet man noch die Heimatliteratur des Schriftstellers Meinrad Lienert (1865–1933), der dieser Strasse den Namen gab. Zu pathetisch hören sich seine Werke mit heutigen Ohren an:

«Im Bärgland ist my Heimed gsi / im stille Alpetal. Ha müesse furt a bloe See / O weles Paredys! Ä Heimed isch ä keini meh.»

In der «unverfälschten Sprache des Volkes» verherrlichte Lienert die Einsiedler Bergwelt seiner Kindheit, sein verlorenes Paradies. Diese Welt stand im Gegensatz zur industrialisierten Stadt, die, damals nach Ansicht vieler, nur Dekadenz und Entwurzelung hervorbrachte. Den gesunden Teil des Volkes fand er in der heilen Welt des Dorfes, wo man aus innerster Überzeugung bereit sei, die Freiheit des Landes zu verteidigen:

«Mys Vaterland ist s Schwyzerland, / My Schild my eigi Brust. Ich hoffe uf kei Bschützerhand, / ich hoffe um my Fust. Ha s Chnü nie boge vor me Huet; / bi myne gsy bis hüt. Entweder d Fryheit lyt im Bluet, / im Fahne lyt sie nüd.»

Es war kein Paradies, das Heval verlassen hatte. Willkürherrschaft, korrupte Machteliten, der Wunsch nach Freiheit und einem besseren Leben trieben ihn fort. «Flüchtlingsausweis, geht leider nicht», hörte er oft auf der Stellen­suche. Doch seit er die Aufenthaltsbewilligung B hat, er seiner Frau und den beiden Kindern eine bescheidene Existenz ermöglichen kann, hat er hier end­gültig seine Heimat gefunden.

Nein, die Sprache ist nicht unverfälscht hier, aber Hevals Geschichte ist eine der vielen, die diese Strasse erzählt. Nicht immer verlaufen sie so, doch aus vielen strahlt ein aufgeschlossener und humanitärer Geist.

Eine Schande sei es, wie ungepflegt der Meinrad-Lienert-Platz noch immer aussehe, schimpft eine Anwohnerin und legt selber Hand an, um die ­verdorrten Pflanzen zurückzuschneiden. Lienerts Sehnsüchte und Hevals Lebensenergie, vielleicht ist es dieses Gemisch, die das Besondere dieser Strasse ausmachen.

Quelle: Meinrad Lienert. Unser Waldstattdichter, Einsiedeln 1965.

Lesen Sie am 1. Oktober den Beitrag über die Oskar-Bider-Strasse. sich.

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