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Reportage

Hatte schon als Kind Probleme mit den Ohren: Margreth Baum. Bild: GH

Wenn die Ohren plötzlich versagen

26. Februar 2019

Hörverlust: Die 73-jährige Margreth Baum erlitt im Jahr 2000 einen stressbedingten Hörsturz. Es dauerte Jahre, bis sie wieder schmerzfrei hören konnte.

Plötzlich diese Totenstille, kein Summen, kein Nachhallen, nur noch Stille und Leere im Kopf. Den Moment, als Margreth Baum zu Hause einen Hörsturz erlitt, wird sie nie mehr vergessen. Das war vor 19 Jahren. «Ich wusste damals nur, dass ich so schnell wie möglich etwas unternehmen muss», erinnert sich die heute 73-Jährige. Sie fuhr ins Zürcher Unispital, wo man sie behandelte. «Es war ein Schock, schlagartig gar nichts mehr zu hören. Das macht Angst.»

In der Schweiz erleiden jährlich rund 1600 Menschen einen plötzlichen Hörverlust, der von Fall zu Fall unterschiedlich stark auftritt. Es handelt sich dabei um eine Funktionsstörung des Innenohrs, die ohne erkennbaren Anlass un​d zumeist nur auf einem Ohr auftritt. Die gebürtige Deutsche hatte seit klein auf Probleme mit den Ohren, auf dem linken ist sie nahezu taub. Sie erinnert sich an qualvolle Nächte mit Mittelohrentzündungen, hinzu kam ein Loch im Trommelfell. 1961 versuchten Ärzte in Hamburg, ihr ein neues Trommelfell einzusetzen, eine damals höchst revolutionäre Therapie, doch der Versuch scheiterte. «Ich konnte auf dem linken Ohr nichts hören, aber das gesunde rechte Ohr kompensierte das andere», sagt Margreth Baum.

Während sie ihre Hörgeschichte erzählt, sitzt sie im gut frequentierten Restaurant Imagine im Zürcher Hauptbahnhof. Rundherum reden Leute wirr durcheinander, Geschirr klappert. Doch Margreth Baum fühlt sich pudelwohl unter Menschen, trotz ihrer Hörbeeinträchtigung. «Für mich ist nicht nur entscheidend, ob ich gut höre, sondern vor allem, ob ich es verstehe.» Als Deutsche habe sie manchmal Mühe, wenn Mundart im Fernsehen gesprochen wird, obwohl sie im ­Direktgespräch alles versteht. «Die Fernsehgeräusche sind oft schlecht, und dann dieses Genuschel.»

Der Hörsturz, glaubt Margreth Baum, sei damals durch Stress ausgelöst worden. Sie hatte einige schwere Schicksalsschläge zu verarbeiten, den Tod ihres Mannes und ihres vier Wochen alten Enkels, den Jobverlust. «Das war einfach zu viel», resümiert sie. Doch unterkriegen lassen hat sie sich nie. «Ich hatte keine Ablehnung gegenüber Hörgeräten, wie sie viele Leute haben, die sich dafür schämen. Es machte mir auch nie etwas aus, eine Brille zu tragen.» Doch seit sie schlechter hört, sieht sie besser, «das eine hat das andere sozusagen abgelöst.»

Gemäss aktuellen Zahlen ist ein Drittel der über 60-Jährigen von einem altersbedingten Hörverlust betroffen. Bei den über 80-Jährigen sind es 80 Prozent. Auch Margreth Baums 55-jährige Tochter hat Mühe mit den Ohren. «Es sind so viele Leute hörgeschädigt, aber manche tun nichts dagegen, das kann ich nicht verstehen.» Margreth Baum plagen noch heute Schmerzen, im Kiefer, aber auch im Kopf, «viele Hörgeräte sind aggressiv eingestellt, mit der Zeit tut das richtig weh.» Bei über 2000 verschiedenen Modellen, die es heutzutage auf dem Markt gibt, gleicht die Suche nach dem richtigen Hörgerät der Nadel im Heuhaufen. Es dauerte Jahre, bis sie sich an ihre Hörhilfe gewöhnt hat. «Ich habe gelernt, geduldig zu sein.» Gerade testet sie ein brandneues Cros-Hörgerät. Die hochentwickelte Technik lenkt Klänge vom nicht hörenden auf das hörende Ohr und ermöglicht eine präzise Verarbeitung im Gehirn. Der Schall wird mittels Mikrofon am tauben Ohr aufgenommen und an das gesunde Ohr weitergeleitet, wo sich der ­Hörer befindet.

Im Licht hört sie besser

Margreth Baum macht viel dafür, dass sie wieder so gut wie möglich hören und verstehen kann. Sie ­besucht Lippenlese-Seminare und Gehirntrainings, welche Pro Audito organisiert. «Lippenlesen hilft unheimlich viel. Ich sage den Leuten daher oft, macht den Mund auf beim Sprechen.» Die rüstige Rentnerin teilt sich die Wohnung mit ihrem dreissigjährigen Enkel. Den Generationsaustausch empfindet sie als äusserst belebend. Die Stehlampe lässt sie neuerdings beim Fernsehschauen brennen, «denn im Licht hört man besser als in der Dunkelheit», ist sie überzeugt.

Margreth Baum ist unternehmungslustig. Sie meidet keine Orte, sondern macht, worauf sie Lust hat. Am liebsten geht sie ins Theater und ins Kino, je grösser, desto besser, «denn grössere Räume haben eine bessere Akustik.» Sie engagiert sich im Turnverein und organisiert Führungen oder Unternehmungen für andere hörgeschädigte Personen. Nachts schläft sie ohne ihr Hörgerät, dann herrscht wieder Totenstille, ein Gefühl, welches sie heute aber nicht mehr ängstigt. «Es macht mir nichts mehr aus, denn nachts schlafe ich sowieso.»

Infobox:

Am Samstag, 2. März, findet der Welttag des Hörens statt. pro audito Schweiz organisiert einen kostenlosen  Info-Anlass zum Thema «Wie bitte? Hören und Verstehen im Seniorenalter.»

Wo: Glockenhaus, Sihlstrasse 33.
Wann: 10 bis 13.30 Uhr. 

www.pro-audito.ch

 

Das Gehör lässt schleichend nach

Wann beginnen die Ohren zu altern?

Erika Rychard: Dass wir überhaupt hören, ist einem komplexen, hochpräzisen Zusammenspiel verschiedener (Kleinst-)Organe zu verdanken. Zum einen den Haarzellen, die dafür zuständig sind, die Schwingungen, die wir über die Ohrmuschel und Hör­knöchelchen empfangen, weiterzuleiten. Diese Haarzellen beginnen bereits ab 30 Jahren zu altern. Das heisst: Sie sterben sukzessive ab, unter anderem wegen Überbeanspruchung. Bei einigen Menschen passiert dies schneller, sodass sich eine Hörminderung bereits mit 30 bis 40 Jahren bemerkbar macht, bei anderen langsamer; sie hören bis zum Seniorenalter oder noch länger gut.

Lassen sich die Ohren schützen?

Die meisten Fälle von Hörminderung sind auf eine Schädigung der Haarzellen durch zu laute und zu lange Lärmeinwirkung auf das Ohr zurückzuführen. So wird zum Beispiel die Musik, die wir in der Freizeit hören, und dies meist noch über Kopfhörer, immer lauter – eine bedenkliche Entwicklung.

Woran merkt man, dass man nicht mehr so gut hört?

Das Gehör lässt schleichend nach, oft merkt man selbst nicht, dass man nicht mehr gut hört. Anderen fällt es häufig zuerst auf. Fernseher, Radio, Veranstaltungen mit vielen Menschen, Restaurantbesuche: Das sind alles Momente, in denen man eine Hörminderung bemerken kann. Sollte man unsicher sein, macht es Sinn, sich für einen Hörtest anzumelden, entweder beim Hausarzt, bei einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt oder beim Akustiker.

Was passiert, wenn man eine ­Hörminderung nicht behandelt?

Im Durchschnitt warten Betroffene bis zu sieben Jahre, bis sie ihre Schwerhörigkeit behandeln lassen. 46 Prozent unternimmt gar nichts gegen die Schwerhörigkeit – die Folgen sind verheerend. Man setzt sich einem erhöhten Risiko an Demenz und Depression aus und wird auch in sozialer Hinsicht einsamer. Hört man weniger, muss das Hirn weniger verarbeiten und wird träge.

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