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Stadtratskolumne

Gerold Lauber

"Der Wind, der Wind ...

. . . das himmlische Kind», antworten Hänsel und Gretel auf die Frage der Hexe, wer denn an ihrem Häuschen knuspere. Das war vor etwa 200 Jahren; inzwischen ist das Kind zum «ältesten Urner» herangewachsen und wütet hoch über dem Reusstal. Der Föhn nimmt mir den Atem, rüttelt am Haus, lässt die Dachbalken ächzen und knarren, pfeift über die Regenrinne, wird stärker und beängstigender, die Tannen biegen und wenden sich von ihm ab. Ohne Unterbruch stürmt er an, holt zwischendurch nur kurz Atem, um dann umso wuchtiger ­weiterzuhasten, nach Norden.


Woher nur hat er diese Energie und Kraft? Was hat er schon alles erlebt und angerichtet auf seinem Weg vom Atlantik über den Süden Europas? Staub aufgewirbelt, durch enge Gassen gestrichen, bunte Wäsche getrocknet, Gesichter liebkost, Augen zum Tränen gebracht oder Tränen getrocknet, als laues Lüftchen über der Poebene Kraft gesammelt, um dann aufzusteigen gegen den Wall der Alpen, durch den Aufstieg gezwungen worden, Feuchtigkeit auszuscheiden, dem Süden Schlechtwetter und Genua Überschwemmungen beschert. Auf dem Gotthard macht er sich, nun trocken, für die Talfahrt bereit, wird von hinten gedrängt und gestossen durch immer neue Luftmassen, alles will nach Norden hin, um von den Menschen in den Voralpen Respekt zu erheischen und jenen weiter nördlich schönes Wetter zu bescheren. Irgendwann und irgendwo nördlich des Rheins wird er dann auslaufen, er­mattet und am Ende seiner Kraft.


Ebenso abrupt, wie er über dem Urnersee einsetzen kann, bricht der Föhn dann wieder zusammen. Als wär er nie da gewesen, ein schlechter Traum, still und unbewegt die Luft, unschuldig und harmlos, sie, die vor kurzem noch Bäume zu entwurzeln und Dachziegel mitzutragen vermochte. Was nur ist aus dem Sturm geworden? Oder: Was macht der Wind, wenn er nicht weht?

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