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Gegessen

Markus Segmüller ist Weinakademiker, Geschäftsführer und Inhaber des Zürcher Gastrounternehmens Segmüller Collection (Carlton, Loft Five, James Joyce, Adlisberg, La Bottega di Mario und Sablier)

Entkorkt: Weintrinker, Weinkenner, Enthusiasten und Weinspinner

Von: Markus Segmüller

30. Juni 2020

Degustationen, Wine & Dine, Tage der offenen Keller oder Weinreisen gibt es wie Trauben an Rebstöcken – und sie zählen zu den beliebtesten Tummelplätzen der Spezies «Weinkenner»! Beste Gelegenheiten also, Weinlisten oder leeres Papier fleissig mit Notizen und Punktevergaben zu füllen. Dies erscheint durchaus sinnvoll, wird es doch nach 30 Referenzen nicht einfacher, sich bestimmte Merkmale eines Weins in Erinnerung zu rufen. Ob auf schaukelndem Untergrund oder in überfüllten Restaurants; dicht gedrängte Verhältnisse sind – oder waren? – üblich. Wo sich Menschen aneinanderreihen, nehmen Geschmacksrezeptoren vieles, sehr vieles, wahr. Auch wird seriöses Degustieren schwierig, lenkt permanentes «Hallo und Tschau, wie gahts, wie stahts» vom konzentrierten Weintesten ab. Man kennt sich in der Degustationsszene, denn «the usual suspects» lassen selten einen Event aus. Diese eingeschworene Gemeinschaft ist stets auf der Suche nach dem ultimativen Weinerlebnis. Diese Verkostungen (früher einfach nur «Degus») locken zudem mit einem netten Nebenaspekt: Die Veranstalter verlangen keinen oder nur einen kleinen Eintritt. Ab September wird zur feucht-fröhlichen Hochsaison geblasen. Dann jagt ein Anlass den nächsten. Ein Fakt, der bei Weinkennern nicht unbedenklichen Stress auslöst.

Die Wein-Enthusiasten

Übertroffen wird die Kategorie der Weinkenner von «schmerzbefreiten» Wein-Enthusiasten. Auch sie degustieren viel und vergleichen rege. Der Preis einer Flasche, die meist durch ein bekanntes Etikett verziert ist, spielt jedoch eine untergeordnete Rolle. Über Preise wird nicht diskutiert, denn Weine leistet man sich. Nur geteilter Wein ist guter Wein! Eine Philosophie, die auch ich teile. Bei den Wein-Enthusiasten wird um halbe Punkte gestritten, debattiert und diskutiert. Am nächsten Tag werden alle möglichen Statistiken auf einer perfekten Excel-Liste präsentiert. Diese Aufstellung definiert peinlich genau, wer welche Punkte verteilt hat. Als bester Degustator gilt, wer die geringste Abweichung aufweist. Die Notizen werden geordnet im System abgelegt und bleiben gespeichert. Peinlich nur, wenn der günstigste Wein am höchsten bewertet wird. Alles in allem eine sympathische und grosszügige Gesellschaft, die den Wein im Freundeskreis gerne teilt – und über sich selber (auch nüchtern) lachen kann.

Die Weinspinner

Die militanten Weinspinner halten alles akribisch fest. Diese Parker-Punkte-Gläubiger stellen sämtliche ihrer Wein-Eindrücke unbeirrt online – und nicht selten zu vorgerückter Stunde. So würdigen sie, mit getrübten Sinnen, verwirrter Nase, lahmer Zunge und taubem Gaumen den unglaublichen 1982er Lynch-Bages mit einer Rezension, die selbst einem handelsüblichen Fruchtsalat nicht gerecht würde. Derartige (subjektive) Degustationsnotizen sind weder hilfreich noch dienlich für einen Weinkauf.

Weine aus dem Karton?

Der Einstieg in die wunderbare Welt der Weine kann durchaus über günstige Produkte führen. Ein erster und berechtigter Schritt weg von Wodka, Bier & Co. Das beklemmende Gefühl, nichts von Wein zu verstehen, darf kein Hindernis sein, sich nicht näher damit zu befassen. Lassen Sie sich nicht entmutigen, wenn Ihnen das Wissen von «Wein-Spezies» oder einschlägiger Literatur fehlt. Lernen Sie von beiden Seiten. Seien Sie offen für die vielseitige Welt der Weine. Nutzen Sie Gelegenheiten, Weine für sich zu entdecken und nähern Sie sich diesem Kapitel genüsslich neugierig. Auch ich war schon auf jedem Degustations-Event, entdecke gerne Neues und vergebe weiterhin Punkte. Aber ich habe vor allem wieder gelernt, am Wein Spass zu haben, den Abend mit Freunden geniessen zu können. Ich schreibe keine Notizen mehr (ich habe hunderte geschrieben), und ich bekunde Freude an einfachen wie auch «komplizierten» Weinen. Ich versuche Weine jeder Herkunft und setze mich auch mit der Orange-Wein-Bewegung auseinander. Aber nicht als verbissener Weltverbesserer in Sachen Wein, sondern aus Freude am Produkt und seinem Genuss.

Ich freue mich, Sie in nächster Zeit auf die Reise dieses Genusses mitnehmen zu dürfen…

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