Gut zu wissen
Der Totentempel des liberalen Zürich
Von: Jan Strobel
100 Jahre Krematorium Sihlfeld: Am Tag des Friedhofs kann das wenig bekannte Gebäude besichtigt werden. Szenen von der Eröffnungsfeier 1915.
Ergriffen blickte der Stadtrat dem prächtigen, mit Palmen und weissen Rosen geschmückten Sarg nach. In die Emotionen stimmte nun die Orgel ein, und endlich öffneten sich die schmiedeeisernen Schiebetüren zum Einäscherungsraum. Ohne das leiseste Geräusch verschwand darin der Sarg langsam, aber stetig, bis sich die Türen wieder schlossen. Was blieb, war Asche, und der Stadtrat zeigte sich hocherfreut.
In diesem schmucken Sarg lag allerdings kein Würdenträger oder Politiker – die Ergriffenheit der Stadträte galt vielmehr einer leeren Totenlade, die Kremation wurde als symbolischer Akt vom Zürcher Feuerbestattungsverein inszeniert. Anlass war die feierliche Einweihung des neuen Krematoriums Sihlfeld D am 6. März 1915, mitten im Ersten Weltkrieg. Für den Stadtrat war der prächtige Bau auch ein Symbol für den Siegeszug der Feuerbestattung in Zürich, damals in der Schweiz ein heiss diskutiertes Politikum. Dass die Zürcher Stimmbürger im September 1912 dem Bau des neuen Krematoriums zugestimmt hatten, galt der Stadtregierung als Beweis für deren toleranten und liberalen Geist.
Albert Heim, dem Präsidenten des Zürcher Feuerbestattungsvereins, übergab der Stadtrat an der Feier ein ganz besonderes Dankesgeschenk für seine Verdienste: ein Familienurnengrab in der Vorhalle des Krematoriums.
Das seit 1992 stillgelegte Krematorium, das heute als Abdankungshalle dient, kann am Tag des Friedhofs am 19. September besichtigt werden. 10–13 Uhr. Eingang Albisriederstrasse 31.
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