mobile Navigation

Interview

Erklärt, warum Zürich und der Rest der Schweiz in der aktuellen Energiekrise wirtschaftlich besser dastehen als die übrigen westeuropäischen Länder: Yngve Abrahamsen, Leiter Wirtschaftsprognosen bei der KOF der ETH Zürich. Bild: PD

Die ökonomische Talsohle ist noch nicht erreicht

Von: Sacha Beuth

18. Oktober 2022

Yngve Abrahamsen (64), Leiter Wirtschaftsprognosen bei der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich, sieht erst für Mitte nächsten Jahres für die Schweiz eine allgemeine ökonomische Entspannung voraus. Bis dahin müssen auch Stadt und Kanton Zürich unten durch – jedoch nicht in allen Bereichen gleich stark. 

Kürzlich musste die KOF die Konjunkturprognosen erneut korrigieren. Sah man für das Bruttoinlandprodukt Ende März 3,0 Prozent für das laufende Jahr vor, waren es im Juni noch 2,8 Prozent und nun 2,3 Prozent. Waren Sie Anfang Jahr einfach zu optimistisch?

Yngve Abrahamsen: Hauptsächlich haben uns hier die nochmals gestiegenen Energiepreise einen Strich durch die Rechnung gemacht. Hinzu kommt, dass Krieg in der Ukraine länger dauert, als wir es im März erwartet hatten. Und Lieferengpässe, zum Beispiel bei den Fahrzeugen, haben die Situation ebenfalls verschlechtert und uns zu Korrekturen gezwungen.

Apropos gestiegene Energiepreise. Warum stehen wir diesbezüglich ökonomisch im Vergleich zum Ausland trotzdem deutlich besser beziehungsweise deutlich weniger schlecht da?

Das eine ist, dass die Schweizer Wirtschaft stark vom Dienstleistungssektor geprägt und darum weniger Energie-abhängig ist als die meisten anderen europäischen Länder, bei denen die Schwerindustrie eine grosse Rolle spielt. Das andere ist, dass bei uns zwar Benzin und Diesel ebenfalls stark gestiegen sind, bei uns aber der Bedarf an Gas – dessen Preis aktuell fast 60 Prozent höher liegt als Anfang Jahr – im Verhältnis geringer ist als im Rest Westeuropas. Zudem sind die Strompreise noch nicht so stark gestiegen wie bei unseren Nachbarn, weil die Schweizer Elektrizitätswerke den Preisanstieg den Bezügern – mit Ausnahme der Grosskunden – erst ab nächstem Jahr berechnen dürfen.

Auch die Inflation ist mit aktuell prognostizierten 3,4 Prozent für das laufende Jahr rund 4-mal niedriger als im EU-Durchschnitt. Wieso?

Neben dem bereits erwähnten geringeren Anstieg der Energiepreise liegt dies auch daran, dass das Preisniveau ohnehin schon hoch ist. Etwa bei den Agrarprodukten. Diese können Grosshändler nicht in grossen Mengen frei einführen, sondern sie müssen einen Zollzuschlag verrichten. Der ist flexibel gestaltet und so ausgerichtet, dass die Preise der Produkte aus der hiesigen Landwirtschaft mit denen aus dem Ausland konkurrenzfähig sind. Steigen also die Preise der Importlebensmittel, sinkt der prozentuale Zollzuschlag und umgekehrt. Daneben hat zur niedrigeren Inflation beigetragen, dass ausser für Diesel und Düngemittel die Kosten für die Bauern kaum gestiegen sind und der Schweizer Franken aufgewertet wurde.

Inwieweit werden sich die ökonomischen Veränderungen im Portemonnaie von Herrn und Frau Schweizer bemerkbar machen?

Wir haben leider die Talsohle noch nicht erreicht. Die Kosten für Strom werden ab 1. Januar 2023 im Durchschnitt um 27 Prozent steigen. Dafür wird der Benzinpreis leicht sinken und es dürfte wieder mehr Rabatte beim Fahrzeugkauf geben, weil wieder in gewünschtem Umfang geliefert werden kann. Die Krankenkassenprämien dürften wiederum weiter steigen, weil die Versicherungen die während der Pandemie reduzierten Reserven nicht weiter abbauen wollen und die Zahl der medizinischen Behandlungen wieder angestiegen ist. Im Gastronomiebereich dürfte es ebenfalls Anpassungen nach oben geben, weil die Gastrounternehmen zur Behebung des Personalmangels wohl die Löhne heben und diese Erhöhung zumindest teilweise auf die Kundschaft abwälzen werden. Insgesamt werden für 2023 auf die Haushalte durchschnittlich 3 bis 4 Prozent Mehrausgaben zukommen.

Wird es bei der Teuerung Unterschiede zwischen der Stadt Zürich und dem Rest des Kantons geben?

Ja, vor allem bei der Energie. Für die Stadtzürcher Bevölkerung zahlt es sich zwar nun aus, dass ewz Strom liefert, der aus eigenen Anlagen und von nichtfossilen Quellen stammt. In Zürich wird der Stromaufschlag darum nur zwei Prozent betragen, während er wie bereits erwähnt im Umland 27 Prozent und mehr betragen kann. Auch die Ausgaben pro Haushalt für den Verkehr dürften in der Stadt geringer steigen, da man hier hauptsächlich mit den ÖV unterwegs und nicht wie auf dem Land teilweise aufs Auto angewiesen ist. Handkehrum gibt es in Zürich im Vergleich zum Umland relativ viele Gasheizungen und für diejenigen, deren Wohnung damit beheizt wird, wird es teuer.

Liegt ein Teuerungsausgleich oder gar eine generelle Lohnerhöhung drin oder würde dies die Teuerungsspirale nur noch mehr anheizen?

Es wird kaum eine Branche geben, welche die Löhne nicht erhöht. Die Frage ist, ob sie im gleichen Verhältnis erhöht werden, wie die Preise gestiegen sind. Einzelne Betriebe werden sich das nicht leisten können. So muss sich die Mehrzahl der Angestellten mit einem Teuerungsausgleich zufriedengeben, der etwa bei drei Prozent liegen wird. Die gute Nachricht ist, dass dies die Unternehmen nicht zwingt, deswegen die Preise anzuheben. Die Teuerungsspirale wird also kaum angeheizt, zumal mit einer Produktivitätserhöhung von 0,5 bis 1 Prozent aufs ganze Jahr die Situation abgefedert wird.

Wird die Arbeitslosenrate im Kanton Zürich ansteigen oder wird sie durch den Arbeitskräftemangel in einigen Branchen stagnieren oder gar weiter sinken?

Sowohl als auch. Einerseits werden in der Statistik viele Stellen suchende Flüchtlinge aus der Ukraine auftauchen, da diese ab 1. Januar 2023 zur Wohnbevölkerung gezählt werden. Dies wird zu einer vorübergehenden, leichten Erhöhung der Arbeitslosenzahlen führen. Andererseits herrscht neben der Gastronomie im Finanz- und Versicherungsbereich, im Gesundheitswesen und in diversen Dienstleistungsbranchen noch immer ein Mangel an Fachpersonal, der nicht so schnell behoben werden wird.

Wird sich die Wirtschaft allgemein bald wieder erholen oder müssen wir noch lange unten durch?

Wir rechnen mit einer Erholung, die etwa ab dem zweiten Quartal 2023 einsetzen wird – wenn auch nur auf tiefem Niveau. Bis dahin wird die Schweizer Wirtschaft sich auf höhere Energiepreise eingestellt und gewisse Prozesse deswegen angepasst haben.

Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

 

 

zurück zu Interview

Artikel bewerten

Gefällt mir ·  
Noch nicht bewertet.

Leserkommentare

Keine Kommentare