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Interview

Unvereinbare Positionen im «Tagblatt»-Streitgespräch: SP-Nationalrätin Min Li Marti warnt vor einem Abbruch der Bilateralen Verträge und wirft der SVP Unehrlichkeit vor. SVP-Nationalrat Mauro Tuena pocht auf der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative und findet, das Parlament habe einen «Verfassungsbruch» begangen. Bild: JS

Ein Zeichen der Souveränität oder ein Sprung ins Ungewisse

Von: Jan Strobel

14. August 2020

Am 27. September stimmen die Schweizer Stimmberechtigten auch über die Volksinitiative «Für eine massvolle Zuwanderung», die sogenannte «Begrenzungsinitiative», ab. Mit dieser Vorlage möchte die SVP erreichen, dass die Schweiz als souveräner Staat die Zuwanderung aus der EU selber steuern kann. Die Personenfreizügigkeit, die als Teil des Bilateralen Abkommens I mit Brüssel ausgehandelt wurde, soll wieder einem Kontingentsystem weichen. Für Mauro Tuena, SVP-Nationalrat und Präsident der SVP Stadt Zürich, ist die Vorlage ein Mittel, um die Forderungen der vom Volk 2014 angenommenen Masseneinwanderungsinitiative durchzusetzen. Für die Zürcher SP-Nationalrätin Min Li Marti wiederum würde eine Annahme unkalkulierbare Risiken bergen. Die gesamten Bilateralen I würden damit wegfallen und die Schweiz damit die bisherigen Erfolge und ihren Wohlstand aufs Spiel setzen.

Bundesrätin Karin Keller-Sutter sprach im Hinblick auf die Abstimmung über die «Begrenzungsinitiative» unlängst von einer «Schicksalsfrage für die Schweiz». Was halten Sie von dieser Einschätzung?
Mauro Tuena: Diese Vorlage berührt eine essentielle Frage, vor allem nach dem 9. Februar 2014, als sich das Stimmvolk mit der Annahme der Masseneinwanderungsiniative schon einmal im Grundsatz klar zu dieser Frage geäussert hat. In der Verfassung steht seither: Die Schweiz steuert die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig. Da gibt es keinen Interpretationsspielraum. Aber das Parlament hat diesen Artikel nicht umgesetzt. Das ist ein Verfassungsbruch.

Min Li Marti: Es geht doch darum: Können wir den bilateralen Weg, dem wir bis jetzt sehr erfolgreich gefolgt sind, weiterführen oder nicht. Sollte bei einer Annahme der Initiative die Personenfreizügigkeit tatsächlich wegfallen, dann werden wegen der sogenannten Guillotineklausel auch die anderen Abkommen der Bilateralen I über die Handelshemnisse, Landwirtschaft, über den Land- und Luftverkehr oder über die Forschung ebenfalls hinfällig werden. Es ist sogar möglich, dass auch das Vertragspaket der Bilateralen II mit Schengen/Dublin gefährdert wäre.

Was sagen Sie zum Vorwurf der SVP, das Parlament habe den Volksentscheid von 2014 nicht umgesetzt?
Min Li Marti: Das Parlament hat umsichtig versucht, den Volksentscheid so umzusetzen, dass die Bilateralen Verträge mit der EU damit nicht gefährdet werden. Ein Beispiel dafür ist die gesetzliche Regelung des Arbeitslosenvorrangs auf dem Arbeitsmarkt. Die SVP verschleiert mit dieser Initiative ihre wahren Absichten. Es geht ihr gar nicht nur um die Personenfreizügigkeit; sie möchte die gesamten Verträge der Bilateralen kündigen.  Deshalb ist es auch nicht falsch, von einer «Kündigungsinitiative» zu sprechen. Ich verlange von der SVP Ehrlichkeit. Ihr habt nie gesagt, dass eine Annahme zum Abbruch der Bilateralen führen würde, weil ihr wisst, wie populär der Bilaterale Weg bei der Mehrheit der Schweizer ist. Das Volk hat den Bilateralen Weg an der Urne immer bestätigt. Und gerade die Personenfreizügigket ist einer der zentralen Pfeiler der EU, einer ihrer zentralsten Werte. Diesen Wert wird die EU nie opfern, sonst würde sie auseinanderbrechen. Den Vorwurf des «Verfassungsbruchs», den das Parlament angeblich begangen haben soll, kann ich nicht ernst nehmen. Als Beispiel: Die Gleichstellung von Mann und Frau steht seit 1981 in der Verfassung. Erst 40 Jahre später setzt man sie ansatzweise um. Ich habe niemanden in der SVP gehört, der diesbezüglich von einem «Verfassungsbruch» geredet hätte. Ihr müsst aufhören mit diesen Krokodilstränen.

Mauro Tuena: Wir haben immer gesagt: Der Bundesrat muss nach Brüssel, um den Vertrag über die Personenfreizügigkeit neu zu verhandeln. Das heisst aber nicht, demütig auf den Knien nach Brüssel zu rutschen, sondern auf Augenhöhe und mit Kraft in die Verhandlungen zu gehen. Wir möchten keine Mauer um die Schweiz bauen, sondern die Zuwanderung eigenständig regeln. Die Personenfreizügigkeit ist kein Vertrag, der in Stein gemeisselt ist. Wenn sich die Umstände ändern, dann muss es möglich sein, einen Vertrag neu auszuhandeln. Und die Umstände haben sich seit der Einführung der Personenfreizügigkeit dramatisch verändert.

Min Li Marti: Ihr gebt bei einer Annahme der Initiative dem Bundesrat ein Jahr Zeit, um mit Brüssel das Ende der Freizügigkeit auszuhandeln. Das ist alles andere als eine kraftvolle Verhandlungsposition, sondern schlicht unrealistisch. Das weiss die SVP genau. Die  Bilateralen Verträge wurden mit gewissen Bedingungen abgeschlossen. Und Du willst im Nachhinein einen der zentralen Bedingungen ändern. Es wäre, wie wenn ich meinem Vermieter sagen würde: Lieber Vermieter, wir haben zwar einen Mietvertrag miteinander abgeschlossen, aber jetzt finde ich, diese Miete ist etwas zu teuer. Ich würde gerne nur die Hälfte bezahlen und dafür vielleicht noch eine neue Küche einbauen lassen. Jeder vernünftige Vermieter würde eine solche Haltung nicht dulden.

Mauro Tuena: Dieser Vergleich ist falsch. Einen Vertrag darf man, ja muss man,  wieder diskutieren, wenn sich die Begebenheiten ändern. Und das passiert. Das liegt doch auf der Hand.

Wie haben sich die Begebenheiten Ihrer Meinung nach verändert?
Mauro Tuena: Die Einwanderungszahlen sind um ein Vielfaches gestiegen gegenüber den porgnostizierten Zahlen. Bis heute verzeichnen wir eine Nettozuwanderung von einer Million Personen. Das ist zu viel. Wir steuern auf eine Schweiz mit 10 Millionen Einwohnern zu und das auf der beschränkten Fläche, die wir unserem Land zu Verfügung haben. Diese Zahlen sind dramatisch. Es muss möglich sein, dieses Thema wieder zu diskutieren. Die Auswirkungen dieser ungezügelten Zuwanderung sind ja überall sichtbar, besonders in Städten wie Zürich. Die Trams und Busse sind überfüllt, das gleiche Bild zeigt sich in den Bahnhöfen und auf der Strasse, und jetzt im Sommer in den Badis. Der Schulraummangel ist eine enorme Bürde. Die Stadt wird immer verdichteter zugebaut. All diese Probleme lassen sich lösen, wenn wir die Zuwanderung in unser Land wieder eigenständig steuern.

Min Li Marti: Gerade unsere Verkehrsprobleme sind nicht das Resultat der Zuwanderung, sondern einer verfehlten Raumplanung. Dafür waren in erster Linie bürgerliche Politiker verantwortlich. Wenn man die Geschichte der Zuwanderung in der Schweiz anschaut, dann wird klar, dass sie von der Konjunktur gesteuert wird. Wenn es der Wirtschaft gut geht, dann steigt die Zuwanderung, geht es ihr schlecht, dann nimmt sie wieder ab. Wir hatten unter dem Kontingentsystem, das die SVP wieder einführen möchte, weit höhere Zuwanderungsraten wie unter der Personenfreizügigkeit. In den 1960er-Jahren zum Beispiel kam es zu einer massiven Zuwanderung in die Schweiz. Wenn man argumentiert, man wolle nur die Zuwanderung, welche die Wirtschaft verlangt, dann wird die Schweiz die selben Zuwanderungsraten haben wie jetzt, einfach bürokratischer, weil es wieder Kontingente geben würde. Wie viel Zuwanderung soll es denn geben? Diese Frage konnte die SVP bis jetzt nicht beantworten.

Mauro Tuena: Es kann nicht sein, dass die Wirtschaft billige Arbeitskräfte ins Land holen kann auf Kosten vor allem von älteren und nicht so hoch qualifizierten Schweizern, die dann in die Arbeitslosigkeit abgedrängt werden. Unsere Sozialsysteme sind bereits am Anschlag. Verlieren die Zuwanderer ihren Job in der Schweiz, bleiben sie hier und haben Anrecht auf Gelder unserer Sozialwerke, wo der Ausländeranteil mit über 50 Prozent proportional enorm hoch ist. Aber es ist ja klar: Wohin geht man? Dorthin, wo der Kühlschrank voll ist. Den findet man nicht in Italien, Spanien oder in Portugal. Ich nehme das diesen Leuten nicht übel, aber für unser Land ist das eine ganz schlechte und gefährliche Entwicklung. Es sollen diejenigen in die Schweiz kommen, die wir wirklich brauchen.

Min Li Marti: Nochmal – wie viel Zuwanderung pro Jahr wäre Deiner Meinung nach vernünftig?

Mauro Tuena: Eine fixe Zahl zu nennen, wäre unrealistisch. Zahlen sind schliesslich immer abhängig von den Umständen.

Min Li Marti: Die Leute kommen, weil unsere Wirtschaft – zumindest vor der Coronakrise – brummte. Das tat sie auch wegen der Bilateralen. Seit den Abkommen mit der EU ist die Wirtschaft gewachsen, die Löhne sind gestiegen, die Einkommen ebenso.

Mauro Tuena: Das ist natürlich chabis. Das Gegenteil ist der Fall. Stark gestiegen ist hingegen die Kriminalität, wo der Ausländeranteil auch über 50 Prozent liegt.

Min Li Marti: Das ist in Bezug auf EU/Efta-Bürger – um die es bei den Bilateralen geht – einfach Unsinn. Das gilt übrigens auch für die Sozialhilfe. Du erzählst hier schlicht die Unwahrheit. Und im Gegensatz zu Dir kenne ich die Kriminalitätstatistik sehr gut.

Mauro Tuena:
Als Vizepräsident der Sicherheitspolitischen Kommission kenne die Zahlen wohl in- und auswendig. Ich schicke Dir diese zum Studieren gerne zu.

Mit der Coronakrise sind die Unsicherheiten und Ängste in der Gesellschaft gewachsen. Wie wird das die Vorlage der SVP beeinflussen?
Mauro Tuena: Die Arbeitslosigkeit wird massiv zunehmen. Viele, die jetzt in Kurzarbeit sind, werden den Job verlieren. Man spricht heute von 6 bis 7 Prozent Arbeitslosen gegen Ende Jahr. Dann kann es doch nicht sein, dass die Schweiz weiterhin die Grenzen offen hält und sagt: «Ihr Kinderlein kommet,  oh kommet doch all.»

Min Li Marti:
Man muss alles versuchen, die Folgen der Krise abzumildern. Wir haben uns als SP  immer dafür eingesetzt. Bei den Geschäftsmieten etwa, bei den Selbständigerwerbenden, bei den KMUs, bei der Kurzarbeit. Und: Wie würden wir die Coronakrise überstehen, ohne die Arbeitskräfte in der Gastronomie und besonders im Gesundheitswesen? Der Arbeitgeberverband Gastrosuisse, dessen Spitzenkandidat Du warst, lehnt die Initiative ab, weil ein Verzicht auf die Arbeitskräfte fatal wäre.  Wenn der Fachkräftemangel mit Einheimischen behoben werden soll, dann bedingt das auch massive Investitionen, gerade für die Ausbildung im Gesundheitswesen, aber auch in die Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die SVP ist konsequent gegen jede Massnahme, welche diesem Fachkräftemangel Gegensteuer geben würde.

Die letzte Umfrage von Gfs Bern von Ende Juni zeigte eine Zustimmung für die Begrenzungsinitative von 29 Prozent. Die Rede war von einem «Fehlstart» für die SVP. Wie sehen Sie das?
Min Li Marti: Das heisst, nicht einmal alle SVP-Wähler unterstützen diese Vorlage. Die Bevölkerung hat in diesen unsicheren Zeiten einfach keine Lust auf politische Experimente. Die Frage ist: Lohnt es sich, ein unkalkulierbares Risiko einzugehen und die bisherigen Erfolge mit den Bilateralen aufs Spiel zu setzen?

Mauro Tuena: Schauen wir am Sonntagabend, 27. September. Im Moment beherrscht Corona noch das Denken. Aber der Abstimmungskampf hat erst begonnen. Die Gegner der Volksinitiative werfen mit Horrorszenarien um sich, das war schon bei der Abstimmung zum EWR 1992 so. Damals hiess es, bei einem Nein zum EWR würde die Schweiz untergehen. Das Gegenteil war der Fall.  Uns ging es danach viel besser als unseren Nachbarn. Heute sind wir heilfroh über den damaligen Entscheid.

Min Li Marti: De facto sind wir mit den Bilateralen Verträgen relativ nahe an dem, was der EWR ohnehin vorgesehen hätte. Bei einer Annahme der Initiative sähe sich unsere Wirtschaft einer schwierigen Situation gegenüber, sollte das gesamte Vertragspaket mit der Guillotineklausel automatisch nichtig werden. Wir hätten wieder Handelshemnisse, keine Standards, der Handel mit Agrarprodukten wäre erschwert und der Zugang zu den Luftverkehrsmärkten. Es kämen Jahre der Rechtsunsicherheiten auf uns zu. Wir sind im Export massiv auf die EU angewiesen, sie ist unser wichtigster Handelspartner. Es wäre wahnsinnig schwierig und kompliziert, mit jedem einzelnen Land neue Abkommen aushandeln zu müssen.

Mauro Tuena: Es ist klar, dass wir gewisse Punkte neu verhandeln müssten. Es ist aber auch klar, dass die EU sehr wohl auf die Schweiz angewiesen ist. Gerade Verkehrstechnisch mit der Nord-Süd-Achse ist unser Land von enormer Bedeutung. Auch der Flughafen Kloten ist ein wichtiges europäisches Drehkreuz.   Ich bin mir sicher, dass die EU – die gerade ziemlich schwach ist – uns aus Eigeninteresse entgegenkommen wird. Sie profitiert selber stark von den anderen Abkommen der Bilateralen I. Und wenn wir von Europa sprechen: Ich würde gerne wissen, wie zum Beispiel die Deutschen oder Österreicher über die Personenfreizügigkeit befinden würden, wenn sie die Möglichkeit hätten, darüber abzustimmen. Auch die Bevölkerung in diesen beiden Ländern würde bei einem Urnengang klar Nein sagen zur masslosen Einwanderung.

Die Bilateralen I

Am 21. Juni 1999 unterzeichneten Bern und Brüssel die sogenannten Bilateralen I. Am 21. Mai 2000, nahmen die Schweizer Stimmberechtigten die Bilateralen Abkommen I zwischen der Schweiz und der Europäischen Union schliesslich mit 67,2 Prozent an. Im Kanton Zürich lag die Zustimmung damals bei 69,9 Prozent. Einzig der Kanton Schwyz und das Tessin lehnten die Vorlage ab. Am 1. Juni 2002 trat das Abkommen in Kraft.
Die Bilateralen I sind ein Vertragspaket, bestehend aus sieben Abkommen. Neben der Personenfreizügigkeit sind das folgende Dossiers: Technische Handelshemnisse, Öffentliches Beschaffungswesen, Landwirtschaft, Landverkehr, Luftverkehr und Forschung. Die Abkommen wurden rechtlich mit einer sogenannten «Guillotine-Klausel» verknüpft. Diese Klausel bestimmt, dass die Verträge nur gemeinsam in Kraft gesetzt werden können. Wird eines der Abkommen gekündigt, werden auch die übrigen ausser Kraft gesetzt.


Im «Tagblatt» vom 26.8. diskutieren FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt und SP-Nationalrat Fabian Molina den Bundesbeschluss über die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge.

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Leserkommentare

Cordula Nebiker - Mauro Tuena: Als Vizepräsident der Sicherheitspolitischen Kommission kenne die Zahlen wohl in- und auswendig. Ich schicke Dir diese zum Studieren gerne zu. Frage: Können wir Leser diese Unterlagen auch bekommen?

Vor 3 Jahren 7 Monaten  · 
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