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Interview

Allan Guggenbühl: "Für das Kind bedeutet der Schulbeginn eine Zäsur." Bild: PD

"Kinder müssen lernen, mit ihren Ängsten umzugehen"

Von: Jan Strobel

13. August 2013

Wenn am kommenden Montag das neue Schuljahr beginnt, bedeutet das für viele Kinder gleichzeitig der Anfang eines neuen Lebensabschnitts. Das «Tagblatt» sprach mit Psychotherapeut Allan Guggenbühl (61) über die Ängste und Herausforderungen, die der Schulbeginn für Kinder und Eltern mit sich bringt, und wie sie gemeistert werden könnten.

Tagblatt der Stadt Zürich: Allan Guggenbühl, erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Schultag?

Allan Guggenbühl: Das war Ende der 50er Jahre in Zürich. Ich erinnere mich, dass ich als einziges Kind mit meinem Vater in der Schule erschien, während meine künftigen Mitschüler alle von ihren Müttern begleitet wurden. Das war damals ziemlich ungewöhnlich – es schien Sache der Mütter zu sein, an diesem Tag dem Kind Unterstützung und auch Halt zu bieten.

Hatten Sie Angst oder Vorfreude?

Guggenbühl: Daran erinnere ich mich nicht mehr. Ich war neugierig und habe die anderen Kinder beobachtet.

Was bedeutet der Schulbeginn für die Entwicklung eines Kindes?

Guggenbühl: Er hat natürlich eine sehr grosse Bedeutung. Für das Kind bedeutet diese Erfahrung eine Zäsur, die ganz ambivalente Gefühle mit sich bringt, neben freudiger Erwartung auch Angstgefühle. Immerhin verlässt man ja gewohnte Strukturen, etwas Unbekanntes kommt auf einen zu.  Den Kindern hilft es, wenn der Übergang ritualisiert wird. Es geht also nicht um den trockenen, rationalen Inhalt des Schulbeginns, sondern Traditionen geben dem Tag eine besondere Bedeutung, zum Beispiel das Überreichen des Schultheks, das Etui mit den Stiften. Das alles setzt einen Rahmen, der diesen Tag zu etwas Besonderem werden lässt. Wir Schweizer tun uns ja immer etwas schwer mit Ritualen, es geht bei uns nüchterner zu und her. Es gibt weder eine Schultüte wie in Deutschland, noch eine Uniform wie in Grossbritannien.

Sind solche Rituale auch dazu da, Kindern Schulangst zu nehmen?

Guggenbühl: Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Kinder ganz angstfrei in die Schule eintreten und wir alles daran setzen müssen, ihnen mögliche Angstgefühle zu verhindern. Es herrscht heutzutage manchmal ein regelrechter Kult des Angstnehmens. Kinder müssen lernen, mit den Ängsten umzugehen und zwar möglichst selbstständig. Der Schulbeginn markiert ja schliesslich den Beginn einer Entwicklung weg von den Eltern. Hat ein Kind seine Angst überwunden, ist es danach umso stolzer auf das Erlebnis.

Was bedeutet das für die Eltern?

Guggenbühl: Eltern sollten sich nicht zu sehr in die Kinderwelt einmischen. Sie sollen den Kindern Mut machen, sie sanft beeinflussen, aber nicht krampfhaft Angst oder Nervosität wegreden. Häufig werden Eltern dabei ja selbst fast kindlich, hysterisch. Dabei könnten sie gelassen die Entwicklungen beobachten, den Kindern ihren eigenen Weg zutrauen. Und schliesslich: Eltern wissen auch nicht alles, tragen selbst vezerrte Bilder oder Komplexe mit sich herum, die dann im ungünstigsten Fall auf die Schulkarriere der Kinder abfärben können.

Sie sprachen vom Kult des Angstnehmens. Ist das ein neues Phänomen?

Guggenbühl: Es ist eine Tendenz, die meiner Meinung nach in den letzten dreissig Jahren verstärkt zu beobachten ist. Das Thema Erziehung erlebt seit den 60er und 70er Jahren einen anhaltenden Boom. Die Familien wurden immer kleiner, die Kinder und ihre Bedürfnisse rückten damit immer stärker in den Vordergrund, manchmal eben auch zuungunsten dieser Kinderwelten.

Wenn das Kind in die Schule kommt, was bedeutet das für den Familienalltag?

Guggenbühl: Wenn es sich um das erste Schulkind handelt, dann beeinflusst der Eintritt die Familie, noch viel stärker als bei Spielgruppe oder Kindergarten. Der Alltag spielt sich plötzlich viel disziplinierter ab. Dazu kommen die verschiedenen Vorstellungen darüber, wie dieses neue Familienleben zu gestalten ist. Väter und Mütter haben unter Umständen ihre ganz unterschiedlichen Ideen, wie so ein freier Nachmittag nun aussehen soll. Das kann immer mal wieder zu Reibereien führen, die so zuvor unbekannt waren. Eigentlich könnte man sagen: Der Schulbeginn des Kindes diszipliniert die Eltern.

Andererseits können es viele Eltern nicht lassen, von Beginn weg Lehrer zu spielen, die Autorität des Lehrers anzuweifeln.

Guggenbühl: Das ist ein sehr schwierig zu lösendes Spannungsfeld. Manche Eltern wollen jeden einzelnen Entwicklungsschritt ihres Kindes überwachen. Andere laden die ganze Erziehung am liebsten gleich mit dem ersten Schultag beim Lehrer ab. Fest steht: Die Lehrpersonen befinden sich mehr denn je unter genauer Beobachtung, die oft überbordende Züge annimmt. Allerdings gibt es auch gewisse Schulen, welche die Eltern bewusst instrumentalisieren, wenn Lehrer zum Beispiel über das Kontaktheftli mit den Eltern kommunizieren, ihnen erzieherische Massnahmen ans Herz legen. Das überschreitet oft Kompetenzen.

Nehmen wir an, ein Vater oder eine Mutter hat schlechte Erinnerungen an die eigene Schulzeit. Färbt das am ersten Schultag auf das Verhalten des Kindes ab?

Guggenbühl: Wenn, dann kommt das erst später. Am ersten Schultag soll das Kind einfach ein schönes Erlebnis haben.

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