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Interview

Braucht es einen Mindestlohn? - Dieser Frage gingen Gewerkschafter Björn Resener und Arbeitgeber-Vertreter Hans Strittmatter nach. Bild: AdobeStock

Mindestlohn – notwendig oder nicht zielführend?

Von: Sacha Beuth

29. Juni 2021

STADTGESPRÄCH Sei es wegen der Annahme eines Mindestlohns im Kanton Basel-Stadt, der Initiative «Ein Lohn zum Leben» für drei Städte im Kanton Zürich, der XING-Studie über Entlöhnung und Entlöhnungsformen sowie der Pilotversuch für ein bedingungsloses Grundeinkommen – das Thema Lohn ist gegenwärtig in aller Munde. Während sich Björn Resener (38), Geschäftsführer des Gewerkschaftsbunds Kanton Zürich, im «Tagblatt»-Duell klar für einen Mindestlohn ausspricht, ist dies für Hans Strittmatter (58), Geschäftsführer Arbeitgeber Zürich VZH, der falsche Weg. Einem bedingungslosen Grundeinkommen stehen aber beide skeptisch gegenüber. Von Sacha Beuth

Das Thema Lohn hat in den letzten Wochen in Zürich wieder an Aufmerksamkeit gewonnen. Sturm im Wasserglas oder eine Riesenbaustelle, die bewältigt werden muss?

Hans Strittmatter: Das Thema Lohn ist zweifellos ein zentrales Thema, denn die meisten von uns sind von ihrem Erwerbseinkommen abhängig. Allerdings sehe ich keinen Anlass, dass man diesen Punkt gegenwärtig besonders gewichten müsste.
Björn Resener: Ich sehe das anders. Insbesondere im Tieflohnbereich müssen die Löhne steigen. Auch und gerade im Hinblick auf die Belastungen, welche die Coronakrise mit sich brachte. Wenn jemand auf Kurzarbeit gesetzt wurde und 80 Prozent von seinem eigentlichen Lohn erhalten hat, der schon bei 100 Prozent nicht zum Leben ausreicht, dann ist der schnell in existenzieller Not. Viele Tieflohn-Beschäftigte mussten sich während der Corona-Krise verschulden.
Strittmatter: Bezüglich Corona muss man festhalten, dass viele zwar sehr hart, andere jedoch kaum von den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie getroffen wurden. Glücklicherweise hatten wir die Arbeitslosenversicherung, die Härten ausgleichen konnte. Zudem haben viele Unternehmen auf freiwilliger Basis die Leistungen der Arbeitslosenversicherung aufgestockt.

Beginnen wir beim Mindestlohn. Basel-Stadt hat kürzlich als fünfter Kanton nach Neuenburg, Genf, Jura und Tessin dazu ja gesagt. Hat das eine Signalwirkung für Zürich?

Resener: Auf jeden Fall. Die Abstimmung in Basel-Stadt hat gezeigt, dass in der Mindestlohnfrage kein Rösti­graben herrscht.
Strittmatter: Von Basel-Stadt gleich auf die übrige Deutschschweiz zu schliessen, finde ich schon sehr mutig. Ich denke, das Ja zum Mindestlohn liegt eher daran, dass Basel-Stadt ein Stadtkanton mit traditionell linker Wählerschaft ist. In den Städten tickt die Mehrheit der Bewohner tatsächlich anders als auf dem Land. Ich bin sicher, dass eine derartige Abstimmung im Kanton Aargau oder Uri abgeschmettert worden wäre. Ausserdem scheiterte 2014 ein gesamtschweizerischer Mindestlohn mit 75 Prozent Nein an der Urne deutlich.

Ist ein Mindestlohn für Zürich überhaupt notwendig? Und falls ja: Für welche Branchen wäre er besonders wichtig und wie hoch sollte er sein?

Resener: Ja, ein Mindestlohn ist absolut notwendig. Wir haben 17 000 Menschen in der Stadt Zürich, die bei einem Vollzeitjob nicht einmal 4000 Franken pro Monat bekommen. Das reicht in Zürich nicht zum Leben. Mit dem von uns vorgeschlagenen Mindestlohn von 23 Franken pro Stunde käme man auf einen Monatslohn von etwas über 4000 Franken. Diese an sich geringfügige Erhöhung würde schon reichen, um Tieflohnbezügern ein anständiges, wenn auch bescheidenes Leben in Zürich zu ermöglichen. Branchen, für die ein solcher Mindestlohn besonders wichtig wäre, sind Wäschereien, Coiffeurbetriebe, Reinigungsdienste, Gastronomie, Kurier- und Expressdienste und teilweise auch die Sicherheitsbranche.
Strittmatter: Nein. Nach unserer Überzeugung gibt es keinen Grund, dass sich der Staat bei der Lohnfindung einmischen müsste. Das ist allein Sache der Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Verschiedene Branchen, die Herr Resener aufgeführt hat, sind klassische GAV-Branchen. Hier wären also die Sozialpartner gefordert, die entsprechenden Massnahmen zu treffen, um allfällige Missstände zu beheben. Und zwar branchenspezifisch. Ich zweifle generell daran, dass Mindestlöhne zielführend sind. Ich glaube beispielsweise nicht, dass sie zur Armutsbekämpfung taugen. So sind laut einem Bericht der Volkswirtschaftsdirektion viele Armutsbetroffene gar nicht erwerbstätig. Das heisst, sie könnten von einem Mindestlohn gar nicht profitieren. Und von denen, die erwerbstätig sind, muss man die Gesamtsituation des jeweiligen Haushaltseinkommens anschauen. Der Lohn ist ja immer nur auf eine Person bezogen. Das heisst, eine alleinerziehende Singleperson würde von einem Mindestlohn nur geringfügig, ein kinderloses Paar, bei dem beide erwerbstätig sind, zu sehr profitieren. Man muss das ganzheitlich betrachten.
Resener: Vor rund zwei Wochen haben mehr als 100 000 Frauen in der Schweiz für Gleichstellung demonstriert. Und Gleichstellung bedeutet eben auch wirtschaftliche Autonomie. Die hat man aber nur mit einem Lohn, von dem man auch alleine leben kann. Es ist ein Fakt, dass zwei Drittel der Personen, die im Tieflohnbereich arbeiten, Frauen sind. Damit ist der Mindestlohn für uns auch eine Gleichstellungsfrage und darum bin ich gegen eine ganzheitliche Betrachtung. Zugleich möchte ich mit dem Vorurteil aufräumen, dass Mindestlöhne nicht gut für die Sozialpartnerschaft sind. Die Sozialpartnerschaft betrifft ebenfalls Arbeitszeit oder Ferien. Und auch da definiert der Staat die Mindestbedingungen und das hat der Sozialpartnerschaft bisher auch nicht geschadet.
Strittmatter: Das ist ein Steilpass, den ich sehr gerne aufnehme. Durch Stärkung der Bildung und Weiterbildung könnten und können viele Tieflohnempfänger – und Herrn Reseners Aussage zufolge somit viele Frauen – aus eigener Kraft in eine bessere Situation gelangen. Und das Thema Bildung ist ein wichtiger Auftrag der Sozialpartner, diese zu fördern und in GAVs zu verankern.
Resener: Weiterbildung ist wichtig, das stimmt. Und es ist gut, dass sich die Sozialpartner um entsprechende Angebote kümmern. Aber es muss erst eine Basis geschaffen werden, dass Arbeitnehmer ein solches Angebot überhaupt wahrnehmen können. Wir wissen, dass viele Tieflohn-Beschäftigte zwei oder gar drei Jobs ausüben. Das heisst, sie haben gar nicht die Zeit für Weiterbildung. Kommt hinzu, dass selbst wenn einige den Ausstieg aus dem Tieflohnbereich schaffen, der Bedarf an billigen Arbeitskräften in den Branchen bestehen bleibt und dieser Bedarf dann über neue Tieflohnempfänger gedeckt wird.

Ein Mindestlohn ist unter anderem umstritten, weil er zu höheren Preisen führen wird oder zumindest könnte, womit die Wirkung verpufft.

Strittmatter: Wie sich das genau auswirken wird, ist ungewiss. Es ist zum Beispiel gut möglich, dass dann Leute einfach weniger eingesetzt werden, damit man die Kosten nicht auf den Kunden abwälzen muss. Und es vergrössert die Gefahr, dass Automatisierungsprozesse weiter vorangetrieben werden. Und damit wäre den Arbeitnehmern sicher nicht gedient.
Resener: Es ist richtig, dass es zu höheren Preisen kommen kann. Allerdings nur in den Branchen, die bislang schon Tieflohnbranchen sind. Wir haben am Beispiel eines Kaffees ausgerechnet, was das bedeuten würde, wenn unsere Initiative angenommen wird. Für diesen würde man in einem Gastrounternehmen gerade mal fünf Rappen mehr bezahlen.

Was ist mit einer möglichen Verlagerung der Arbeitsplätze in andere Kantone oder gar ins Ausland?

Strittmatter: Da sehe ich gegenwärtig keine grosse Gefahr. Die meisten der betroffenen Branchen und somit deren Kunden sind standortgebunden.
Resener: Ich bin in diesem Punkt mit Herrn Strittmatter grundsätzlich einer Meinung. Unsere Initiative sieht klar vor, dass der Mindestlohn dort gilt, wo die Arbeit ausgeführt wird.
Strittmatter: Und wie soll das kontrolliert werden?
Resener: Die Kontrollfrage ist tatsächlich die einzige Frage, die vom Zürcher Stadtrat bei der Prüfung als kritisch erachtet wurde. Wir hatten die Einrichtung einer Kommission aus Vertretern von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und der Stadt vorgeschlagen, die dieses Problem lösen soll. Für das Einrichten einer solchen Kommission müsste die Gemeindeordnung geändert werden, weshalb die Stadt vorschlug, einen konformen Gegenvorschlag auszuarbeiten.

Einer Studie des Berufsnetzwerks XING zufolge scheint für Arbeitnehmer eine ausgewogene Work-­Life-Balance wichtiger zu sein als ein Mindestlohn. Zwei Drittel der Befragten sagten, dass sie auch andere Vergütungsmodelle ausser Geld – namentlich mehr Ferien – akzeptieren könnten.

Strittmatter: Es dürften vor allem Gutverdiener sein, die diese Meinung vertreten. Für Gutverdiener hat ein Job viel mit Selbstverwirklichung zu tun. Für Niedriglohnempfänger ist er dagegen in erster Linie Broterwerb. Wenn Letztere zwischen Zeit und Geld wählen können, dann wählen sie immer Geld.
Resener: Ich stimme hier mit Herrn Strittmatter überein. Ich wünsche mir natürlich, dass alle Arbeitnehmer eine solche Wahl hätten. Aber dafür braucht es gerade in den Tieflohnsegmenten höhere Löhne.

Da wäre doch ein bedingungsloses Grundeinkommen die ideale Lösung, zumal damit auch das Ziel «Ein Lohn zum Leben» erreicht wäre, oder?

Strittmatter: Ich sehe ein bedingungsloses Grundeinkommen eher skeptisch. Finanzielle Gerechtigkeit wird man damit jedenfalls nicht erreichen, weil ein Millionär dann gleich viel bekommt wie einer ohne Vermögen. Zudem hat Arbeit eine wichtige soziale Komponente und kann Sinn stiften.
Resener: Auch bei mir löst ein bedingungsloses Grundeinkommen aus den genannten Gründen nicht gerade Begeisterung aus. Aber mir gefällt, dass die Debatte darum betont, dass nicht nur Lohnarbeit sinnstiftende und gesellschaftlich wichtige Arbeit ist.

Initiativen und Studie im Detail

Die Initiative «Ein Lohn zum Leben» wurde letzten Herbst von einem gleichnamigen Komitee lanciert, das von Vertretern der AL und anderer rot-grüner Parteien, des Gewerkschaftsbundes des Kantons Zürich sowie der Hilfswerke HEKS, Caritas und SAH unterstützt beziehungsweise getragen wird und vorerst auf die Gemeinden Zürich, Winterthur und Kloten beschränkt ist. Die Initiative sieht einen Mindestlohn von 23 Franken in der Stunde vor. Damit soll ermöglicht werden, dass Personen auch in teuren Städten wie Zürich von einem Lohn leben kön- nen. Nachdem die nötigen Unterschriften eingesammelt waren, wurde die Initiative den jeweiligen Stadträten übergeben. Der Klotener Rat empfiehlt dem Stimmvolk eine Ablehnung, in Winterthur und Zürich soll ein Gegenvorschlag ausgearbeitet werden, der im Fall von Zürich bis im März 2022 vorliegen soll.

In der am 10. Juni publizierten Studie des Berufsnetzwerks XING wurden 500 Berufstätige in der Deutschschweiz zum Thema Lohn- und Lohn- formen befragt. Dabei stellte es sich heraus, dass sich 66 Prozent der Befragten auch eine andere Entlöh- ung als (nur) Geld vorstellen können. Auch sollen als Mass für die Fest- legung des Lohns das Erreichen eines Ziels stärker berücksichtigt werden (60 Prozent dafür), die Präsenzzeit dafür weniger stark.

Für die Initiative «Wissenschaftlicher Pilotversuch Grundeinkommen» hatte sich ein überparteiliches Komitee starkgemacht und im Mai die Initiative samt der nötigen Unter- schriften dem Stadtrat überreicht. Die Vorlage sieht vor, dass 500 Personen während drei Jahren ein «bedingungsloses» Grundeinkommen erhalten. Wie hoch das Einkommen sein und welche Leistungen es enthalten soll, wurde nicht definiert, es soll aber das soziale Existenzminimum nicht unterschreiten. 

Was ist Ihre Meinung zum Thema? echo@tagblattzuerich.ch

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