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Interview

Harald Naegeli anlässlich der Kunstpreis-Verleihung im September 2020. (Bild: Keystone)

«Sprayen ist kein Fall von Sachbeschädigung»

Von: Reinhold Hönle

02. November 2021

Harald Naegeli, dem legendären Sprayer von Zürich, ist ein hervorragender Kino-Dokumentarfilm gewidmet, der am 4. November im Riffraff und im Arthouse Piccadilly startet. In diesem exklusiven Interview blickt der 81-jährige Künstler und Denker an seine Anfangszeit und generell auf sein rebellisches Leben zurück. 

 

 

Seit den Kontroversen um Ihre Ausführung des Totentanzes im Grossmünster 2018 sind Sie in Zürich wieder ein Gesprächsthema. Sind Sie darüber erfreut oder schockiert, dass Ihre Kunst noch immer so wenig ästimiert wird?

Harald Naegeli: Die stumpfsinnige Reaktion der Obrigkeit irritiert schon. Andererseits ist es die Aufgabe jedes Künstlers, dass er provozieren muss. Es kommt darauf an, welche Fähigkeiten er besitzt. Der wahre Künstler ist eine spirituelle Person mit handwerklichen Fähigkeiten, doch es gibt natürlich auch unzählige Schmierfinken. Trotzdem ist es in keinem Fall eine Sachbeschädigung, wie sie rechtsgültig definiert wird. Was ist beschädigt oder in seiner Funktion verhindert? Nichts, es ist etwas hinzugefügt worden.

Sollte kein Unterschied gemacht werden, welche Qualität die Graffitis haben?

Der juristische Sachverhalt ist immer gleich, egal, ob es sich um Selbstinszenierung, künstlerische Gestaltung, Schmierfinkerei oder politische Manifestation handelt. Aber man kann die verschiedenen Formen künstlerisch bewerten.

Wie kamen Sie auf die Idee, Spraydosen zu verwenden?

In den 68ern sprayte man politische Slogans, Schlagworte und Symbole. Ein mir unbekannter Philosoph fasste diese Aktionen in folgende Worte, die ein Student auf eine Mauer gesprayt hat: «Wer begriffen hat und nicht handelt, hat nicht begriffen.» Darauf sagte ich mir: «Dann habe ich bis jetzt auch nichts begriffen!» (Lacht) So begann ich mit meinen ersten Zeichnungen. Street-Art, wie man sie heute nennt, ist viel politischer als etablierte Kunst, denn sie ist zugänglich und wendet sich an die gesamte Bevölkerung, nicht nur an einen elitären Kreis von Kunstexperten und Geschäftsleuten.

Haben Sie aus dem Rebellentum heraus gesprayt, das Sie von Ihrer Mutter geerbt haben, oder um ein grösseres Publikum zu erreichen?

Ich habe geprayt, um mich selbst zu erfahren. Ich bin kein Maler. Ich mache Collagen und arbeite mit Klebstreifen oder anderen Dingen, die man montieren kann. Es muss etwas Körperhaftes involviert sein. Malerei ist etwas, wo man es mit Flächen zu tun hat, wo man mit dem Pinsel Farbe aufträgt, um eine sinnliche Struktur herzustellen. Meine Mutter war Malerin. Ich habe ihr immer sehr fasziniert zugeschaut, aber der Geruch von Öl und Terpentin hat mich abgestossen. Ich hatte auch nie die nötige Geduld. Man muss warten, bis die erste Schicht trocken ist, bevor man weitermalen kann. Ich bin ein geborener Zeichner!

Wie hat sich das gezeigt?

Wie viele Kinder habe ich schon sehr früh zu zeichnen und kritzeln begonnen. Mein Vater war Arzt und bekam laufend Medikamenten-Prospekte. Auf der Rückseite war meistens eine leere Fläche, auf der mein jüngerer Bruder und ich zeichneten. Ein lustiger Gedanke: Vielleicht waren das die wirkungsvolleren Heilmittel? (Lacht) Unsere Mutter hat immer meinen Bruder gelobt – bis sie eines Tages sagte: «Jetzt hat Harald die schönere Zeichnung gemacht.» Da war Hans so beleidigt, dass er aufgehört hat zu zeichnen ...

… und Ihr Stern aufgegangen ist?

Mir war es egal, dass meine Mutter vorher nur ihn gelobt hatte. Ich habe immer gezeichnet, weil es mir Freude macht. Es ist entscheidend, dass man nicht abhängig ist vom Urteil anderer, sondern selbst davon überzeugt ist, was man tut. Nicht nur in der Kunst ist das der Fall.

Wer hat Ihre Werke zuerst geschätzt: die Bevölkerung oder die Kunstwelt?

Ich habe die Reaktionen nicht so sehr verfolgt und mich bedeckt gehalten. Selbst meine Brüder wussten nicht, dass ich spraye. Später meinten sie, ich wäre ein sehr missmutiger Mensch gewesen, bevor ich diese Befreiung fand, die mich zufrieden und liebenswürdig machte. (Lacht) Tatsächlich war es für mich ungeheuer befreiend, meine Revolte ausleben zu können.

Wie lief die Therapie ab?

(Lacht) Die erste Figur habe ich ganz schüchtern in einem Hinterhof angebracht. Mit der Zeit bin immer mutiger geworden. Als ich mal im Kantonsspital lag, hat ein anderer Patient zu mir gesagt: «Da ist einer ausgebrochen. Der ist nicht bei klarem Verstand, der bemalt die ganzen Häuser!»

Haben Sie Ihre Figuren auch selbst fotografisch dokumentiert, oder haben Sie das ganz der Polizei überlassen?

Ich habe manchmal nachgeschaut, wie sie aussehen, ob sie noch da sind, und sie gelegentlich auch verändert. Wenn ich sinnierend vor einer Figur stand, bekam ich manchmal auch Tipps wie «Schau, dort hinten hat es auch noch eine!». 

Haben Sie sich für Ihre nächtlichen Sprayzüge getarnt?

Nein, ich war normal gekleidet, wie jeder Bürger. Mein Hund, der mich begleitete, hat immer ein Freudengebell losgelassen, wenn es losging. Als man mir das erste Mal eine Falle gestellt hat, war er auch dabei. Es kam zu einem Handgemenge zwischen mir und dem Securitas, seinem und meinem Hund. (Lacht)

Wer hat gewonnen?

Ich bin geflohen, habe aber leider meine Brille verloren. Als ich sie am nächsten Tag suchte, eine Dummheit, bin ich von der Polizei verhaftet worden.

 

 

Harald Naegeli wurde am 4. Dezember 1939 in Zürich als Sohn eines Schweizer Arztes und einer norwegischen Kunstmalerin geboren. Nach dem Kunststudium in Zürich und Paris begann er 1977 mit dem Sprayen seiner Graffitis, gegen die Uniformierung und Unbewohnbarkeit der Stadt zu protestieren. Seine Werke wurden von den Behörden oder Hausbesitzern zumeist entfernt. 1981 wurde Naegeli wegen Sachbeschädigung zu neun Monaten Haft verurteilt, die er nach seiner Flucht nach Deutschland 1984 freiwillig antrat. Danach lebte er in Düsseldorf, ehe er – infolge einer schweren Erkrankung den Tod vor Augen – 2020 zurück nach Zürich zog. Während des Lockdowns sprayt er seinen Totentanz an Häuserwände, erhält den Kunstpreis der Stadt Zürich und die Einzelausstellung «Der unbekannte Bekannte», die bis 19.12. im Musée Visionnaire zu sehen ist. Nathalie Davids eindrücklicher Dokfilm «Harald Naegeli – der Sprayer von Zürich» läuft ab 4. November im Kino.

 

Weshalb haben Sie so lange in Düsseldorf gelebt? Weil Ihnen die dortige Kunstszene gefallen hat?
Ich bin eine glückliche Natur. Ich nehme die Verhältnisse an, wie sie sind. Als ich nach meiner Verurteilung nach Deutschland geflüchtet bin, fühlte ich mich bei den dortigen Künstlern sehr willkommen. Obwohl ich die Nähe zur Kunstszene nie suchte, habe ich unter ihnen einige Freunde gefunden. Dank der Unterstützung meiner Familie war ich ökonomisch unabhängig genug, um mich nie dem Diktat des heutigen Kunstmarktes unterordnen zu müssen.

Was meinen Sie damit?

Ich habe nie mit Galerien zusammengearbeitet. Der mächtige Trieb zu gestalten war immer meine Motivation, nie der kommerzielle Erfolg. Heute geht es fast nur noch ums Business. Die spirituelle Komponente, die im letzten Jahrhundert noch eine wichtige Komponente in der Kunst war, ist verloren gegangen.

Sie haben viele Ihrer Werke an Museen verschenkt. Besteht auch die Möglichkeit, sich einen echten Naegeli zu kaufen?

Ja. Meine Stiftung hat den Zweck, Natur-, Tier- und Umweltschutz auch nach meinem Tod zu unterstützen. Dazu stelle ich einen Teil meiner Werke für Benefiz-Auktionen zur Verfügung.

Die Natur scheinen Sie zu lieben, zum Menschen aber ein zwiespältiges Verhältnis zu haben?

Durchaus. Joseph Beuys, ein naher Freund, hatte Charisma und ein positives Verhältnis zum Menschen. Seinen Optimismus teile ich in keinster Weise.

Haben Sie nur für die Kunst gelebt? Und die sozialen Kontakte waren nicht wichtig?

Nicht relevant. Jetzt im Nachhinein erscheint es mir auch so. Nur die Kunstutopie hat mich beschäftigt. Den Dialog mit der Natur vermisse ich sehr, weil meine Mobilität stark eingeschränkt ist. Früher ging ich oft in den Zoo und skizzierte Flamingos, Bären und Elefanten. Das ist anspruchsvoll, da Tiere nicht Modell stehen. Oft kann man nur ein Fragment einfangen, eine Pfote, den Rücken oder Kopf, bevor sie ihre Haltung ändern. Deshalb braucht es ein erfahrenes Auge und eine geübte Hand, um alles zu einem harmonischen Ganzen zusammenzufügen.

Hat sich eigentlich die mangelnde Lebensqualität in Zürich, gegen die Sie mit dem Sprayen protestiert hatten, zum Positiven verändert?

Leider nicht.

 

Harald Naegeli in den Achtzigerjahren mit einem seiner bekannten Kunstwerke. (Bild: PD)

 

 

Ist die Gelassenheit, die Sie ausstrahlen, eine Gabe oder etwas, das Sie gelernt haben?

Am Ende meines Lebens sage ich mir, ich wäre lieber ein Zen-Meister als ein Zeichner. Ich weiss zwar wenig von denen, aber das sind Leute, die ihr Ich überwunden haben und in grosser Gelassenheit leben können. Sie sind Künstler, die das Leben bewältigen. Der Künstler bewältigt die Kunst. Es fragt sich: Was ist wichtiger? (Schmunzelt)

Weshalb haben Sie zuerst abgelehnt, als Nathalie David einen Dokumentarfilm über Sie drehen wollte?

Wenn alles auf mich fokussiert ist, fühle ich mich unbehaglich. Mir ist es am wohlsten, wenn ich ganz allein bin, im Dialog mit der Natur oder mit mir selbst. Die filmische Vermarktung ist mir fremd, aber vielleicht nicht nur nachteilig, da sie das Publikum dazu bringen wird, sich mit Kunst und philosophischen Gedanken auseinanderzusetzen. In einer Zeit, in der das Kollektiv auf der Suche nach Identität seine Stars imitiert, gerate ich selbst in diese Rolle und bekomme viele Briefe, in denen mythologisiert wird. Ich werde darin mit Attributen versehen, die ich gar nicht besitzen kann. Ich merke dabei immer wieder, dass mich diese eigentlich nicht beeindrucken.

Gab es Persönlichkeiten, die Sie inspirierten?

Anfänglich war Kurt Schwitters meine Galionsfigur. Er war einer der Ersten, der Collagen gemacht hat. Als ich an der Kunstgewerbeschule damit vertraut wurde, war ich sofort begeistert, während ich das Zeichnen ablehnte, das mir dort zu wissenschaftlich und akademisch war. Stattdessen habe ich mit der Collage gearbeitet. Auch Hans Arp war wichtig. Er hat den Dadaismus mitbegründet, in dessen Tradition ich auch meine Sprayaktionen sehe.

Wer hat Sie am meisten beeindruckt?

Mich haben Personen, die sich selbst sind, sehr beeindruckt. Darunter eine Frau, die Köchin in einer Pfarrersfamilie war. Nach ihrem Eintritt ins Altersheim hat sie mir gesagt, das Einzige, was sie vermissen würde, sei das Kochen. Mit anderen Worten: Glück ist, seine Bestimmung zu finden, bei welcher Beschäftigung auch immer. Enorm faszinierend war für mich auch Joseph Beuys. Er hatte zwei Seiten: Er war eloquent und hatte Logorrhö bis zum Gehtnichtmehr. (Lacht) Aber er war auch ein sehr spiritueller Mensch. Als ich ihn das erste Mal traf, habe ich sofort begriffen, dass er jemand ist, der sehr tief in sich reinschauen, aber auch sehr extrovertiert sein kann. Nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis fragte er mich, was ich jetzt machen würde. Ich antwortete: Handzeichnungen. Darauf Beuys, sehr typisch für ihn: «Handzeichnungen! Fusszeichnungen! Sag doch einfach Zeichnungen.» Er sagte es liebenswürdig, väterlich. Er war eine messianische Figur.

Der Totentanz ist in Ihrem Werk kein neues Motiv. Den ersten haben Sie bereits vor vierzig Jahren in Köln gesprayt. Wie kam es dazu?

Er entstand aus einer persönlichen Erfahrung heraus. Auf einer Wanderung im Bündnerland war ich einmal gezwungen, eine steile Felswand hinaufzusteigen. An einem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab, konnte ich mich mit dem Griff meines Wanderstocks mit letzter Kraft hinaufziehen. Mein Tod war damals sehr nahe. Als ich in Sicherheit war, habe ich so tief wie noch nie durchgeatmet. Der Tod ist sowieso ein Menschheitsthema, aber die Idee der Unsterblichkeit grassiert. Traurig, dass sogar Kirchen und das Kunsthaus den Tod verleugnen und sich verpflichtet fühlen, meinen Totentanz zu ignorieren oder sogar auszulöschen.

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