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Interview

Wohnungsnot, steigende Mieten. Die Energiekostenzulage soll dazu beitragen, dass Menschen mit wenig Einkommen ihre Wohnung behalten können. Nicolas Zonvi

"Zürich ist nicht einfach losgelöst von der Welt"

Von: Von Ginger Hebel und Jan Strobel

27. Dezember 2022

Neujahrsinterview: Die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs finden auch in der lokalen Politik und im gesellschaftlichen Leben in der Stadt Zürich ihren Niederschlag. Für Stadtpräsidentin Corine Mauch stellen sie eine der grössten Herausforderungen auch für das kommende Jahr dar. 

Was waren für Sie die prägendsten Momente dieses Jahres?
Corine Mauch: Grundsätzlich lässt sich sagen, dass unsere Arbeit im Stadtrat auch im gesamten 2022 von einer Krisenorganisation begleitet war. Der prägendste Moment war dabei zunächst kein lokalpolitischer: der unfassbare Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar. Als Folge des Ukraine-Kriegs entwickelte sich auch die Energiekrise zu einem grossen Thema. Weil Strom- und Heizkosten für viele zur finanziellen Belastung werden, hat die Stadt Zürich als erste Schweizer Stadt eine Energiezulage beschlossen. Für die erstmalige Ausrichtung gezielter Unterstützung rechnen wir mit rund 17 Millionen Franken.


Ein anderer Moment waren sicherlich auch die Erneuerungswahlen im vergangenen Februar. Dort konnten Sie sich eigentlich zurücklehnen, sie hatten keine ernstzunehmenden Gegenkandidierenden. Ihre Wiederwahl als Stadtpräsidentin war gesetzt. Macht eine solche Sicherheit nicht auch ein wenig bequem?
Es ist in einem demokratischen Prozess sicherlich nicht das Ziel, keiner Gegenkandidatur gegenüberzustehen. Eine breitere Auswahl wäre wünschenswert gewesen. Die Frage ist, weshalb niemand aufgestellt wurde. Aber natürlich hat mich das positive Wahlergebnis sehr gefreut. Es bestätigt mich in der Politik, die ich mache und für die ich stehe. Ich spüre den Rückenwind der Stadtzürcher Bevölkerung.


Im Gegenwind hingegen standen Sie in der Kulturpolitik. Erst hagelte es Kritik über den Umgang mit der Aufarbeitung der Sammlung Emil Bührle; dann versenkte der Zürcher Gemeinderat das Projekt zum Abriss und Modernisierung des Pfauensaals. Das war ja auch für Sie eine Niederlage. Wie sehen Sie das heute?

Demokratie ist immer eine Form der Auseinandersetzung. Ich kann und darf nicht erwarten, als Politikerin immer erfolgreich zu sein. Wichtig bleibt, etwas mit Überzeugung zu vertreten und anzugehen. Und gerade im Fall des Pfauensaals war der Stadtrat überzeugt von der Variante einer umfassenden Erneuerung. Die beiden Punkte, die Sie hier anschneiden – Bührle-­Sammlung und Pfauen – sind ja im Grunde völlig unterschiedliche Themenbereiche. Was sie allerdings verbindet, ist der Umgang mit Erinnerungskultur. Die Geschichte rund um die Sammlung Emil Bührle richtet ja erneut einen Fokus auf die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und die harzige Bereitschaft, diese Rolle schonungslos aufzuarbeiten und zu hinterfragen. Die Öffentlichkeit setzt sich heute viel intensiver mit dieser Vergangenheit auseinander. Das ist gut so: Diese Debatte wird die Schweiz auch weiterbringen in der Frage, wie wir mit historisch belasteten Kulturgütern umgehen.


Was erwarten Sie vom externen Runden Tisch, der sich aktuell mit der Evaluation der bisher geleisteten Provenienzforschung zur Sammlung Bührle befasst?

Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich es wichtig finde, auch kritische Stimmen einzubeziehen. Der von Professor Felix Uhlmann in unserem Auftrag zusammengestellte Runde Tisch soll das sicherstellen. Er hat den Auftrag erhalten, die Evaluation der bisherigen Herkunftsforschung der Sammlung vorzubereiten und zu betreuen. Der Schlussbericht wird mehr Klarheit schaffen und Empfehlungen für den künftigen Umgang mit den Kunstwerken machen.


Dennoch: Hat durch diese Debatten die Reputation des Kunst- und Kulturplatzes Zürich nicht gelitten?

Ich denke nicht, denn diese Debatten müssen geführt werden, sie bringen uns weiter. Für mich war 2022 ein insgesamt positives Kulturjahr. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Kultursektor überdurchschnittlich von den Auswirkungen der Corona-Pandemie betroffen war. Umso erfreulicher ist es nun, dass das kulturelle Leben in der Stadt wieder stattfinden und aufblühen kann. Es ist schön zu sehen, wie froh die Zürcherinnen und Zürcher sind, wieder an Veranstaltungen teilnehmen zu können.


Das Jahr 2022 hinterlässt Europa in einer politisch hochangespannten Lage. Im Februar bekundeten Sie die uneingeschränkte Solidarität mit der Ukraine. Wie sieht diese Solidarität konkret aus?
Die Stadt Zürich hat schon früh 500 000 Franken an die Glückskette und weitere Organisationen überwiesen, um Menschen auf der Flucht zu unterstützen. Kurz vor Weihnachten sprach der Stadtrat wiederum eine halbe Million, um die Ukraine mit dringend benötigten Ambulanzfahrzeugen zu versorgen. Ein Thema ist auch die Wiederaufbauhilfe. Wir prüfen diesbezüglich Optionen, im Verbund mit anderen Schweizer Städten. Die Bereitschaft zur Hilfe und die Solidarität ist gross, auf vielen Ebenen. Menschen in Zürich bieten den Geflüchteten ihre Unterstützung an, lassen sie bei sich wohnen, binden sie in verschiedene Projekte ein. Auch Kulturorganisationen arbeiten zusammen mit Geflüchteten. Wir haben Beiträge geleistet, um sie darin zu bestärken. Im Oktober konnten zudem Jugendliche aus der ukrainischen Stadt Winnyzja am Sportlager Fiesch teilnehmen.


Nicht nur die politische Lage in Europa ist angespannt; in den gesellschaftlichen Debatten wächst die Lust am Protest, auch in der Stadt Zürich. Es gab so viele Demonstrationen und Kundgebungen wie noch nie – ein Drittel davon unbewilligt, zum Ärger vieler Stadtbewohner, Gewerbetreibender oder Pendler. Was ist Ihre Haltung dazu?

Freie Meinungsäusserung ist wichtig, und Demonstrationen und Kundgebungen sind nun einmal ein mögliches Ausdrucksmittel. Es ist für eine demokratische Gesellschaft essentiell, die eigene Meinung öffentlich kundtun zu können. Entscheidend ist der Dialog. Es ist Aufgabe der Stadtpolizei, dass sie besonders im Hinblick auf die Routenwahl eine Beeinträchtigung des Alltags und des Verkehrs möglichst gering hält. Ich kenne die Situation und die Sorgen der Gewerbetreibenden in der Innenstadt, wo es zu den meisten Demonstrationen kommt. Und ich verstehe ihren Frust. Entscheidend ist auch die Gewährleistung der Sicherheit in der Stadt, zum Beispiel auch im Zug von gewalttätigen Ausschreitungen nach Fussballspielen. Der Stadtrat hat auf Nachdruck von Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart neue Stellen bei der Stadtpolizei beantragt, um dem Personalmangel, von dem auch die Stadtpolizei stark betroffen ist, Gegensteuer zu geben.


Ein gravierender Personalmangel herrscht nicht nur bei der Stadtpolizei, auch in den Schulen oder bei den VBZ. Der Stadt, scheint es, laufen die qualifizierten Leute davon.

Der Fachkräftemangel ist in allen Branchen spürbar. Nicht nur die Stadt ist gefordert; es ist ein nationales gesellschaftliches Problem. Die Situation wird sich kaum entschärfen, besonders auch deshalb, weil die Babyboomer-Generation in Rente geht. Als Gesellschaft müssen wir uns ernsthaft Gedanken darüber machen, wie wir das Personalproblem künftig bewältigen können. Die entscheidenden Weichen werden nicht auf kommunaler Ebene gestellt. Entscheidend ist zum Beispiel, dass die Schweiz ihre Beziehungen zur EU weiterentwickelt.


Der Stadtrat budgetierte für 2023 insgesamt 24 092 Stellen, was einer Zunahme gegenüber dem Budget 2022 von 357,6 Stellenwerten entspricht. Bei der Budgetdebatte ging die Mehrheit im Gemeinderat sogar noch weiter. So sollen zum Beispiel 70 zusätzliche Schulassistenzstellen geschaffen werden. Es ist ja eigentlich paradox: In Zeiten des Fachkräftemangels und eines roten Budgets werden Stellen massiv ausgebaut. Wie geht das zusammen?

Die Bevölkerung der Stadt Zürich wächst weiter, die Zahl der Arbeitsplätze auch. Wegen dieses Wachstums, aber auch wegen zusätzlicher Aufgaben wie der Tagesschule braucht es mehr Personal. Ich will, dass die Stadt und ihre Dienstleistungen weiter so gut funktionieren und die Lebensqualität auf diesem hohen Niveau gehalten werden kann. Eine Aufstockung der Stellen – etwa im Schulbereich oder beim öffentlichen Verkehr – ist alles andere als paradox, sondern eine Notwendigkeit.


Der Aufwand der Stadt Zürich sprengt die 10-Milliarden-Grenze. Wie möchte die Stadt verhindern, dass den nachfolgenden Generationen keine Lasten beziehungsweise eine Schieflage der städtischen Finanzen aufgebürdet wird?

Zürich soll auch in Zukunft eine soziale, ökologische und wirtschaftlich attraktive Stadt bleiben. Unsere Finanzpolitik ist nachhaltig, wir haben genügend Eigenkapital, um die Herausforderungen der wachsenden Stadt anzupacken. Ein hochstehender Service Public und Investitionen in die Nachhaltigkeit sind gerade im Sinne der nachfolgenden Generationen.


Stichwort Netto-Null: Wo sehen Sie Fortschritte?
Der zügige Ausbau der thermischen Netze ist sicherlich eines der dringlichsten und wirkungsvollsten Vorhaben, um den CO₂-Ausstoss bis 2040 auf Netto-Null zu reduzieren. Das sieht auch die Stadtzürcher Bevölkerung so, sie steht eindrücklich geschlossen hinter diesem Ziel. Das zeigte jüngst auch das klare Ja des Stimmvolks zum Rahmenkredit von über einer halben Milliarde Franken zum Ausbau der Fernwärme. Bis 2040 sollen 60 Prozent aller Liegenschaften in der Stadt Zürich an das Netz angeschlossen sein.


Beim Ausbau des Solarstroms hinkt die Stadt allerdings hinterher. Gemäss Erhebung des Stromvergleichsdienstes My New Energy beträgt der Anteil an Solarstrom hier nur 0,4 Prozent. Grosse Dachflächen bleiben ungenutzt. Wie möchten Sie hier vorankommen?

Die Stadt macht auch in diesem Bereich mit der Photovoltaik-Strategie vorwärts. Bis 2030 soll die Stadt das Vierfache an Solarstrom produzieren, auf städtischen Gebäuden sogar das Fünffache.


An der Klimapolitik kommen auch Grossveranstaltungen wie das Züri-Fäscht nicht vorbei. Das Verbot der Flugshows löste bei vielen Zürcherinnen und Zürchern Unverständnis aus. Auch die Feuerwerke werden künftig wohl bald erneut ins Visier genommen. Was sagen Sie zum Vorwurf, der Entscheid folge einer ideologisch verbrämten grünen Verbotskultur?

Zunächst einmal: Das Züri-Fäscht soll nach vier Jahren endlich wieder stattfinden – das freut mich. Vom Organisationskomitee werden grosse Anstrengungen unternommen, das Fest nachhaltiger zu gestalten. So soll der Abfall um die Hälfte reduziert werden. Bei den Flugshows hätte ich es begrüsst, wenn es einen Kompromiss gegeben hätte, welcher sich auch offen für Innovationen gezeigt hätte. Eine Diskussion über das Fliegen in Zukunft ist wichtig. Eine klimaneutrale Flugshow, an welcher Maschinen mit synthetischem Treibstoff als Alternative zum fossilen Kerosin fliegen, hätte dazu einen prominenten Beitrag leisten können. Verbote sind aber nicht per se negativ. Denken Sie nur an das Glühbirnen-Verbot. Dieses Verbot hat der Entwicklung von energiesparenden Alternativen, etwa massiv effizienteren LED-Lampen, einen entscheidenden Impuls gegeben.

Ein fast schon chronisches Problem in der Stadt Zürich ist die Wohnungsnot. Derzeit stehen so wenige Wohnungen leer wie zuletzt 2011. Es ist mit steigenden Mieten zu rechnen. Wie konnte es zu dieser weiteren Verschärfung kommen und was tut die Stadt dagegen?
Zürich ist eine attraktive Stadt, die Menschen wohnen gerne hier. Diesen Sommer haben wir den Allzeit-Bevölkerungs-Höchststand erreicht. Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ist eine grosse Herausforderung, die der Stadtrat mit einer aktiven Wohnpolitik anpackt, unter anderem mit einem neuen kommunalen Wohnraumfonds. Der Handlungsspielraum der Stadt ist aber eingeschränkt – gerade bei Projekten gewinnorientierter Bauherrschaften. Es braucht die Dialogbereitschaft aller Beteiligten für eine qualitätsvolle und nachhaltige weitere Entwicklung.


Steigende Mieten, Gentrifizierung von Quartieren, höhere Lebenskosten: Was unternimmt die Stadt Zürich für Familien oder ältere Menschen, die am Existenzminimum leben und trotzdem noch in der Stadt leben wollen?

In Zürich zu wohnen, darf keine Frage der Grösse der Portemonnaies sein. Neben einer aktiven Wohn- und Bodenpolitik investieren wir weiterhin in tragfähige soziale Netze. Zum Beispiel mit der Wintermantelzulage, dank der 13 000 einkommensschwache Rentnerinnen und Rentner auch dieses Jahr im Dezember eine Einmalzulage erhalten haben. Auch die bereits erwähnte Energiekostenzulage soll künftig dazu beitragen, dass Menschen mit wenig Einkommen ihre Wohnung nicht verlieren. Der Wohnungsmarkt war auch im Oktober ein Thema, als es um den Zuzug von Expats ging. Ihre Partei, die SP, gab sich plötzlich zuwanderungskritisch.

Der Zuzug verschärfe die Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt; Sie selbst verlangten, dass jeder, der sich hier niederlässt, Deutsch «büffeln» solle. Fehlt der Wille zur Integration?
Nein, die Menschen kommen in Zürich an und integrieren sich. Das Zusammenleben funktioniert gut. Selbstverständlich ist die deutsche Sprache wichtig, um sich in Zürich aktiv am sozialen Leben zu beteiligen. Deshalb ist es richtig, dass alle, die hier bleiben wollen, Deutsch lernen. Die Stadt leistet dabei gezielte Unterstützung.


Als Sie in den USA lebten, waren Ihre Eltern dort ja eigentlich auch Expats. Wie hat Sie diese Erfahrung geprägt?

Dass ich in den USA geboren bin und einige Jahre dort lebte, hat sicher zu einer Öffnung des Horizonts beigetragen. Ich erfuhr konkret, dass es unterschiedliche Kulturen und Lebensweisen gibt. Das empfinde ich als Bereicherung.


Wenn Sie aufs kommende Jahr blicken: Was bereitet Ihnen in Bezug auf die Stadt Zürich Sorgen?

Die Stadt Zürich macht mir wenig Sorgen. Wir sind gut unterwegs. Aber natürlich ist Zürich nicht einfach losgelöst von der Welt. Die Flüchtlingsthematik, der Krieg, der Klimawandel; das sind alles grosse Herausforderungen, denen wir uns auch lokal stellen müssen. Wir können es uns leisten, in die Forschung zu investieren und Neuerungen voranzutreiben. Das verpflichtet.

 

 

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