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«Läb wohl, Chindli, ich chume gli wider!»: Soldaten verabschieden sich am 2. September 1939 am Hauptbahnhof Zürich von der Familie. (Bild: Keystone)

Als der Krieg die Zürcher mobilisierte

Von: Jan Strobel

27. August 2019

Vor 80 Jahren, am 1. September 1939, verwandelte sich die Stadt Zürich quasi von einer Stunde auf die andere in eine Stadt im Ausnahmezustand. Das alltägliche Leben schien stillzustehen.

Dass der Krieg kommen und sich die Hoffnung auf Frieden immer mehr als Illusion erweisen würde, das hatte sich bereits in den letzten Augustwochen 1939 abgezeichnet. Die europäische Spannung würde sich entladen, und auch in Zürich war der Druck spürbar, wo gerade die Schweizerische Landesausstellung stattfand im Zeichen der Geistigen Landesverteidigung. Während in Europa der Sturm immer bedrohlicher aufzog, amüsierten sich dennoch Tausende Landi-Besucher auf dem Schifflibach am Mythenquai oder mit einer Seilbahnfahrt über den See. Heimat, Wehrhaftigkeit und Patriotismus wurden gefeiert – doch schon bald sollten diese Begriffe nicht nur rein ideologische Losungen bleiben.

Hitlerdeutschland hatte mit dem «Anschluss» Österreichs, der Annektierung des tschechischen Sudetenlands 1938 und der vollständigen Besetzung Tschechiens im März 1939 bereits klar gemacht, dass es sich in seinem rücksichtslosen Expansionshunger nicht stoppen liess. Dieser verbrecherischen Machtpolitik stand die europäische Diplomatie erschreckend gelähmt gegenüber. Schliesslich hatte das Naziregime auch Polen im Visier und legte am 23. August 1939 mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt die Grundlage für dessen gewaltsame Zerschlagung. In Berlin feilten die Strategen und Propagandisten daran, den geplanten Blitzfeldzug im Osten der Öffentlichkeit zu «verkaufen». Der Krieg war zu diesem Zeitpunkt längst eine ausgemachte Sache, auch wenn Deutschland den Willen nach einer «friedlichen Regelung» vorschob. Grossbritannien und Frankreich unterzeichneten daraufhin einen Beistandspakt mit Polen. Hitler allerdings war davon überzeugt, dass die Westmächte auch dieses Mal viel zu spät reagieren würden. An der deutsch-polnischen Grenze kam es bereits zu militärischen Vorbereitungen, im ganzen Deutschen Reich wurden Reservisten einberufen.

Die Signale wurden auch in Bern mit Sorge registriert. Bereits am 28. August hatte der Bundesrat 80 000 Mann des Grenzschutzes mobilisiert. Am 30. August organisierte die FDP im Zürcher Kongresshaus eine öffentliche Veranstaltung, an der Historiker Karl Meyer einen Vortrag über die aktuelle Lage und die schweizerische Stellung darin hielt. An die rund 4500 anwesenden Personen appellierte er, angesichts der ernsten Situation Vertrauen in die Schweizer Behörden und die Armee an den Tag zu legen.

Eine perfide Lüge

Zwei Tage später, am frühen Freitagmorgen, 1. September 1939, ging über den deutschen Äther der wohl verhängnisvollste Satz der jüngeren Geschichte. Hitler erklärte vor dem versammelten Reichstag in Berlin: «Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen.» Ohne Kriegserklärung war die deutsche Wehrmacht in Polen einmarschiert. Als Rechtfertigung diente dem Regime eine perfide Lüge. Der Sender Gleiwitz in Oberschlesien sei von Polen angegriffen worden, die deutsche Aktion mithin ein Akt der Verteidigung, liess die Propaganda verlauten. Tatsächlich hatte die SS den Angriff inszeniert. Die NZZ vermeldete in ihrer Mittagsausgabe: «Heute Morgen um 6 Uhr hat der Krieg begonnen.»
Noch im Verlauf dieses Tages ordnete der Bundesrat den Ernstfall, die allgemeine Mobilmachung, für den folgenden 2. September an. Die Behörden erwischte der Kriegsfall, zumindest, was die Planung anbelangt, keineswegs auf dem falschen Fuss. Die Schritte der Mobilmachung unterlagen einem minutiös getakteten Mechanismus. Und schon Jahre zuvor waren Massnahmen etwa für Verdunkelung und Luftschutz getroffen worden. Bereits im Mai 1935 wurde in Dübendorf die erste Fliegeralarm- und Verdunkelungsübung der Schweiz durchgeführt. Ab dem 1. April 1937 wurden Verdunkelungsvorrichtungen obligatorisch. Vorhänge mussten abgedichtet oder durch spezielle Verdunkelungsstoffe ersetzt, Türen, Wände und Fenster isoliert werden. Fahrzeuge durften bei einer partiellen Verdunkelung lediglich mit abgeblendetem Licht verkehren. Obligatorisch musste jede Liegenschaft Luftschutzsand bunkern. Unzählige Firmen boten in der Stadt Zürich dafür ihre fachmännischen Dienste an. Dennoch kritisierte der Ausschuss für Luftschutzbauten die laxe Haltung vieler Zürcher Hausbesitzer, die keine Luftschutzräume erstellt hatten, weil die technischen Anforderungen zu hoch waren und die Finanzierung zu unklar geregelt wurde.

Der Regierungsrat des Kantons Zürich bereitete die Bevölkerung bereits auf mögliche kommende Engpässe vor. Bei Eintritt einer Störung der Landesversorgung mit Lebensmitteln, insbesondere im Fall einer Generalmobilmachung, sei damit zu rechnen, dass während einer Dauer von zwei Monaten in den Salzverkaufsstellen kein Kochsalz mehr erhältlich sei. Ebenso wurden die Kantonsschüler der oberen Klassen aufgefordert, sich im Ernstfall für Hilfsdienste zur Verfügung zu stellen, zum Beispiel in der Verwaltung oder in der Landwirtschaft.

Verweinte Augen

Mit der Mobilmachung verwandelte sich Zürich sozusagen von einer Stunde auf die andere in eine Kriegsstadt, das Militär nahm von ihr Besitz. Zu Fuss, mit Tram oder Velo eilten die Wehrpflichtigen zu ihren vorgeschriebenen Sammelplätzen oder zum Hauptbahnhof. Auf dem Kasernenareal wurden requirierte Lastwagen in Empfang genommen. Ein Offizier verlas vor den Soldaten die Kriegsbestimmungen und die Eidesformel, mit der sie «dem Vaterland Treue» schworen. Der Hauptbahnhof wurde zum militärischen Lager, die Wartesäle zweiter und dritter Klasse für die einrückenden Soldaten zu provisorischen Unterkünften und der Boden mit Stroh ausgelegt. Zu ihren Sammelplätzen und den Zügen begleiteten die Einrückenden ihre Frauen, Kinder und Verwandten. «Man sah viele verweinte Augen, wenn die voll besetzten Züge aus der Halle dampften und Frauen und Kinder zum Abschied winkten», beschrieb die NZZ die Gemütslage im Hauptbahnhof.
Auch für die Zurückgebliebenen änderte sich der Alltag spürbar. Der Trambetrieb wurde eingeschränkt, weil viele Angestellte der Verkehrsbetriebe einrücken mussten. Der Sechs- wurde auf einen Achtminutenbetrieb umgestellt. In den Früh- und Spätstunden verkehrten die Trams neu in Abständen von zwölf Minuten.  Das letzte Tram fuhr bereits um 23 Uhr. Die Busse wurden fast vollständig für die Armee abgezogen und einzelne Buslinien in der Folge eingestellt. Auch die Post war von der Mobilisation betroffen. Die Austragung erfolgte nur noch zweimal täglich, jeweils am Vor- und Nachmittag. An den Postschaltern wurden die Kunden wegen des stark reduzierten Personals zur Geduld gemahnt.

Von den 75 städtischen Schulhäusern nahm die Armee 43 in Anspruch. Der Unterricht fiel für eine Woche aus. Betroffen von dieser Massnahme waren ebenfalls Kindergärten, die Gewerbe- und die Töchterschule. Für die Zeit danach wurden jeder Lehrkraft zwei Klassen zugeteilt, weil auch hier Personalmangel herrschte. Neben der Lehrerschaft mussten auch Ärzte und Anwälte ihre Praxen vorübergehend schliessen und einrücken.

Tausende Wehrpflichtige strömten in der Halle des Hauptbahnhofs in Uniform zu den Zügen. (Bild: Schweizer Illustrierte)

 

Natürlich musste es selbst in Ausnahmezeiten wie diesen korrekt zu- und hergehen. Die Zentralbibliothek Zürich forderte deshalb die Wehrpflichtigen auf, vor dem Einrücken noch die entliehenen Bücher zurückzubringen. Die Mobilmachung traf auch den Zürcher Kulturbetrieb. Das Corso­theater beim Bellevue stellte seinen Betrieb ein. Das Stadttheater wiederum verlor durch das Einrücken fast sein gesamtes Orchester und die Techniker. Ähnlich sah es im Schauspielhaus aus. Nur der Circus Knie konnte sein Gastspiel zu Ende bringen, weil die meisten Artisten Ausländer oder aber militärdienstfrei waren.

Bereits am 1. September wurde die Landesausstellung geschlossen. Stadtpolizisten patrouillierten im Stahlhelm um das Gelände. Noch am Vortag hatte hier Hochbetrieb geherrscht. Und die Tage, als am Seenachtsfest vom 23. August noch ein Feuerwerk die Zürcher bezauberte, schienen wie aus einer anderen Welt. Erst auf Betreiben von General Henri Guisan wurde die Landi später wiedereröffnet.
Stadtpräsident Emil Klöti appellierte am 1. September an die Zürcher Bevölkerung, «ruhig Blut» zu bewahren, und warnte im Namen des Stadtrats «vor überstürzten Wareneinkäufen und unbedachten Geldabhebungen». Der Bundesrat und die Behörden hätten vorsorgliche Massnahmen zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und zur ruhigen Abwicklung des Geldverkehrs getroffen. Zudem seien öffentliche Ansammlungen und Kundgebungen zu unterlassen.

Schweizweit rückten in diesen Septembertagen der Mobilmachung 430 000 Mann Kampftruppen und 200 000 Hilfsdienstpflichtige ein. Eine zweite allgemeine Mobilmachung sollte im Mai 1940 stattfinden. Insgesamt kam es während des Aktivdienstes 1939 bis 1945 zu 80 Teilmobilmachungen. Mit dem Kriegsausbruch wurde auch in der Zürcher Gesellschaft ein Ideal besonders hochgehalten: Solidarität. «Beweisen wir unser Verständnis für die Lage und die sich daraus ergebenden Folgen», hiess es in der NZZ, «durch solidarisches Handeln.»

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