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Reportage

Blick in die Blockrandsiedlung Erismannhof im Kreis 4. Bild: Helena Wehrli

Wenig Luxus, aber voller Leben

Von: Urs Hardegger

09. Dezember 2014

Jeder Ort in Zürich hat seine Geschichte. Das «Tagblatt» erzählt in einer Serie jede zweite Woche eine solche Story. Heute: der Erismannhof.

«Städtische Wohnkolonie» lautete lange Zeit die Bezeichnung für die offene Blockrandsiedlung im Kreis 4. Das tönt nach Ghetto oder Pioniersiedlung in unwirtlicher Umgebung. Die Wirklichkeit zeigt sich anders. Der altehrwürdige Innenhof ist voller Leben, Knaben diskutieren strittige Regeln beim Fussballspiel, Kleinkinder quietschen auf der Rutschbahn, Mütter plaudern im Schatten der japanischen Kirschbäume auf den Bänken.

Der Name der Siedlung erinnert an Friedrich Erismann (1842–1915) aus Gontenschwil AG. An der Universität Zürich machte er nicht nur mit dem aktuellen Stand der Medizin Bekanntschaft, sondern auch mit einer russischen Studentin. Um sie zu heiraten und ihr nach St. Petersburg zu folgen, nahm er viel auf sich: 26 Medizin­examen in russischer Sprache musste er wiederholen, um als Arzt in Russland tätig sein zu können. Als Sozialmediziner, «Hygieniker», wie man damals sagte, brachte er es bald zu Ansehen, mit seiner «Gesundheitslehre für Gebildete aller Stände» erlangte er internationale Aufmerksamkeit. Bei der mangelhaften Ernährung, der fehlenden Hygiene und der Unwissenheit müsse die Verbesserung der Volksgesundheit ansetzen. Als er sich mit den aufmüpfigen Studenten gegen das ­zaristische Regime solidarisierte, verblasste sein Stern in Russland. Er verlor seinen Lehrstuhl an der Universität Moskau und musste mit seiner zweiten Frau und den drei Kindern in die Schweiz zurückkehren, und die Geschichte von Auswanderung und Rückkehr nahm ihren Fortgang in Zürich.

Sozialer Schmelztiegel

Gelebte Integration findet im Kindergarten im Innenhof statt. Dem Kindergärntner Lukas Coradi gefällt die Arbeit: «Viele Kinder haben einen Migrationshintergrund. Aber die Durchmischung beginnt sich zu ändern, die Wohnlage wird auch für bildungsnahe Schichten attraktiver.» Zudem haben seit einigen Jahren Studenten-WGs die soziale Zusammensetzung bereichert, doch die verschiedenen Lebensformen müssen sich erst noch aneinander gewöhnen.

Für die Verbesserung der Wohnverhältnisse der «niedrigen Klassen» trat Erismann ein. Im vorgerückten Alter wurde er 1901 für die Sozialdemokraten in den Stadtrat gewählt, wo er 1915 im Amt verstarb. Er kann zweifellos als ein Wegbereiter des Genossenschaftsbaus betrachtet werden. Im grossen Stil umgesetzt wurden seine Ideen erst im «roten Zürich» der späten 1920er-Jahre, als auch der Erismannhof gebaut wurde. Die angespannte Finanzlage zwang zum Sparen, und dies hatte ­Folgen: Bescheidener Ausbaustandard, kleine Grundrisse, eine Dusche im ­Keller mussten für einen Blockteil genügen.

Den Bewohnern der «Arme-Leute-Siedlung» schlug bald Verachtung entgegen, lange hielt sich der Spottname «Wanzenburg», der nach der Ungezieferplage der 1930er-Jahre als Menetekel in Erinnerung blieb. Doch nach wie vor lebt es sich günstig hier. Bei nur 800 Franken für eine 3-Zimmer-Wohnung gilt es, beim Luxus Abstriche zu machen: keine Zentralheizung, nur ein warmes Zimmer mit Kachelofen. Wer mehr will, muss selber teure Elektroöfen installieren.

Vladi, ein Bewohner einer Parterrewohnung, verlässt nach 24 Jahren die Siedlung. Er bedauert dies, aber er tue es für seine Frau und seine beiden Kinder. «Wir bringen die Wohnung im Winter einfach nicht warm, es ist feucht, und die Wände sind schimmlig.»

Soziales Engagement und Herzenswärme zeichneten den Menschen Erismann aus. Vieles kann man damit in Gang setzen, doch ohne eine gewisse Raumtemperatur ist Wohnlichkeit nur schwer zu haben.

Quellen: Karin Huser: Friedrich Erismann. In: Käser, Künstler, Kommunisten. Zürich 2009.
Hanspeter Wick: Friedrich Huldreich Erismann. Zürich 1970.

Lesen Sie hier am 7. Januar 2015 den Beitrag zur Ricarda-Huch-Strasse.

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