Die Zürcher Kolumnistin Eynat Bollag berichtet aus Israel.
«Kann ich Ihr Billett sehen?», fragt mich der Kontrolleur auf dem Heimweg nach Tel Aviv. Kann er. Ich fahre nie schwarz. Das wurde mir eingetrichtert. 100 Franken Busse, weisst du, was du mit dem Geld alles machen kannst? Kennen wir, nicht wahr?
Der Mann vor mir mit Sonnenbrille und einem Energydrink in der Hand schaut grimmig aus dem Fenster. Er soll sein Ticket zeigen, bittet ihn der Kontrolleur. Er schaut ihn an. Angespannte Stille herrscht. Sie macht mich nervös. Doch dann: «Ich habe keines, Bruder», sagt er nüchtern. «Wieso denn nicht? Das kostet dich viel Geld», so der Kontrolleur eindrücklich empathisch. «Was willst du von mir? Andere kehren in Särgen zurück… Gib mir die Busse.»
Wenige Tage davor sind unter anderen Shiri Bibas und ihre beiden kleinen Kinder Ariel und Kfir tot aus der Geiselhaft der Hamas «freigekommen». Und das in einer an Geschmacklosigkeit nicht zu überbietenden Zeremonie. Es sind Bilder, die die ohnehin schon traumatisierten Menschen hier einmal mehr kaum verarbeiten können.
Wir leben in einer ständigen mentalen Überforderung und einer Realität, die man sich in der Schweiz schlichtweg nicht vorstellen kann. Etwa dass zwei Personen im Sprüngli über die vier Schweizer Geiseln sprechen, die heute über die italienische Grenze endlich nach Hause zurückkehren. Dass das ganze Land um sie trauert – lebendig wurden sie gekidnappt, tot kommen sie zurück. Dass der Münsterplatz zum Geiselplatz mutiert. Dass sich dort wöchentlich Menschen einfinden, um zusammen zu hoffen und gleichzeitig zu trauern. Dass auf dem Prime Tower die Anzahl Tage der Geiselhaft erleuchtet.
Heute sind es 516 Tage nach dem7. Oktober. Noch immer fehlen uns59 MitbürgerInnen, 35 davon tot. «Bis vor einer Woche war ich selbst an der Front… was soll diese Busse also. Gib sie mir schon!», drückt der Schwarzfahrer nach. Der Kontrolleur winkt ab und sagt: «Alles gut, Bruder».Ich steige mit ihm zusammen aus. Erleichtert. Vor zwei Wochen wären hier um ein Haar fünf Busse parallel in die Luft geflogen.
Die Zürcher Journalistin Eynat Bollag (35) lebt in Tel Aviv und arbeitet unter anderem für ARD und ZDF.