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Kultur

Fischel und Chaye Reiss, die Grosseltern des Schriftstellers Roger Reiss, 1933 in Zürich. Bild: Privat

Das Schachbrett des Lebens

Von: Jan Strobel

20. Dezember 2019

Der Zürcher Schriftsteller Roger Reiss legt mit seinem neuen Roman «Karamboleske Nittel-Nacht» die eindrückliche Geschichte aus einer längst verschwundenen jüdischen Welt vor.

«Moyshe, so wird erzählt, führte die Talmudschule wie ein Kapitän auf einem sinkenden Dampfer, welcher inmitten der See in einem fürchterlichen Sturm von höllischen Wogen durchgeschüttelt wird.»

Dieses Bild im neusten Roman «Karamboleske Nittel-Nacht» des Zürcher Schriftstellers und Wahl-Genfers Roger Reiss führt den Leser direkt dorthin, wo diese Geschichte ihren Anfang nimmt. Sie entspinnt sich in den sumpfigen und frostigen Weiten Galiziens Ende des 19. Jahrhunderts, in der Grenzregion zwischen der Donaumonarchie und des Russischen Reichs, wo die gottgegebene Gnade des Kaisers in Wien und des Zaren in St. Petersburg nur selten hinreicht. Besonders für die jüdische  Bevölkerung dieses Landstrichs ist das Leben ein dauernder Kampf um die Wurzeln, um Legitimation, ums eigene Überleben, gegen den alles zerfressenden Antisemitismus und die drohende Vernichtung. Immer wieder fallen Juden aller Schattierungen Pogromen zum Opfer.

Angst an Weihnachten
Besonders an Weihnachten, auf Jiddisch die «Nittel-Nacht», grassiert im Schtetl die Angst. Viele Christen sehen in den Juden schliesslich die Schuldigen für den Tod ihres Heilsbringers Jesus. Roger Reiss versammelt die Protagonisten seines Romans in dieser «Nittel-Nacht» in der Talmudschule von Rabbi Moyshe und seiner Frau. Hier soll die Gemeinde der Schüler ausharren, bis Weihnachten vorüber ist. Der Lehrsaal wird geräumt, die Lichter gelöscht, die Schule von der Aussenwelt abgeriegelt. Für zwölf Stunden macht sich das jüdische Leben gleichsam unsichtbar. Statt Talmud-Bücher zu studieren, spielen die Schüler mit dem Rabbi düstere Schachpartien. Es ist ein Sinnbild für  ihr Schicksal. Das Schachbrett ist die Bühne, auf der das Drama des Lebens spielt.

Die Bedrängnis dieser Nacht allerdings löst beim jungen Paar Shloyme und Surele Fragen nach  ihrer Zukunft aus – und die liegt jenseits von Galizien und hinter den Gebirgs­zügen der Karpaten, irgendwo in einem vielleicht wärmeren Land, in dem ein Leben ohne Angst möglich sein kann, in dem die «Nittel-Nacht» nicht zum Problem wird. Die Auswanderung scheint die einzige Option.

Im zweiten Teil des Buchs verknüpft Roger Reiss diese fiktive Geschichte aus dem galizischen Schtetl mit seiner realen Familiengeschichte, die er unter anderem bereits 2003 in seinem Buch «Fischel und Chaye» festgehalten hat. Fischel und Chaye waren Roger Reiss’ Grosseltern. 1917, mitten in den Wirren des Ersten Weltkriegs, flohen sie zusammen mit den beiden Kindern Leon und Julius vor den russischen Truppen aus dem österreichisch-ungarischen Galizien.

Über Wien kamen sie schliesslich nach Zürich, wo sich die Familie niederliess und später an der Stauffacherstrasse 37 in Aussersihl, unweit des damaligen «Zürcher Schtetl», das Kurz- und Strumpfwarengeschäft F. Reiss & Sohn gründeten. Die Angst der Vorfahren während der «Nittel-Nacht» zumindest musste die Familie Reiss nicht mehr erleben. Weihnachten verbrachte Roger Reiss als Junge vielmehr in den Aroser Bergen beim Schlitteln.

Die galizischen Wurzeln indessen sind bis heute Teil des Selbstverständnisses, der Identitätsfrage.
«Karamboleske Nittel-Nacht» erzählt eine jüdische Auswanderungsgeschichte und steht damit in der Tradition eines Joseph Roth, der in seinem Roman «Hiob»  ebenfalls von der Emigration einer jüdischen Familie aus dem Schtetl erzählte.

Andererseits wirft das Buch auch das Licht auf eine Welt und eine jüdische Kultur in Europa, die unter ständiger Bedrohung rastlos zu überleben versuchte und schliesslich in der Shoah fast vollständig vernichtet wurde. Und die im Buch auf Jiddisch gestellte Frage «Viahin zol men avekloyfn?» –  «wohin fliehen?», für viele Juden weltweit ist sie noch immer von existentieller Bedeutung.

Weitere Informationen:
Roger Reiss: «Karamboleske
Nittel-Nacht». Erhätlich als
Taschenbuch bei www.amazon.de
www.amazon.de
ISBN: 978-1701992962

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Leserkommentare

Michel Borzykowski - Diese «Karamboleske Nittel-Nacht» enthält eine sehr schöne Geschichte, voller Humor und Spott über eine möglicherweise veraltete, aber immer noch lebendige Welt! Die Fragen, die diese Erzählung aufwerfen, sind immer noch ganz relevant!
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Vor 4 Jahren 3 Monaten  · 
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