«Was ist die Seele Zürichs?»
In drei Büchern haben François G. und Yves Baer einen besonderen Zugang zur Stadtgeschichte geschaffen. Ihr gemeinsames Werk ist nicht nur ein historisches, sondern auch ein familiäres Projekt.
In drei Büchern haben François G. und Yves Baer einen besonderen Zugang zur Stadtgeschichte geschaffen. Ihr gemeinsames Werk ist nicht nur ein historisches, sondern auch ein familiäres Projekt.
Was inspiriert Sie beide, gemeinsam an der Geschichte der Stadt zu arbeiten?
François G. Baer: Zürich hat wie jede alte Stadt, deren Geschichte über Jahrtausende zurückreicht, wie Lausanne, Marseille oder Köln, ihre eigene Seele entwickelt. Seit der Arbeit an unserem ersten Buch «Die Zürcher Altstadtkirchen» interessiert uns die Frage, was die Zürcher Seele ist und wie viel Geschichte in der heutigen Stadt noch präsent ist.
Yves Baer: Mich interessiert das grosse Zürich. Denn die Stadt hat eine reiche Geschichte, in der wir zwei rote Fäden gefunden haben: Die Handelsstadt, in der die Kelten Münzen prägten, im Mittelalter erhielt die Fürstäbtissin des Fraumünsters das Münzregal und heute ist die Stadt ein bedeutender Finanzplatz. Immer gleichbedeutend mit dem Handel waren Kultur, Religion und Bildung. Für all dies waren die teilweise Konkurrenz und vor allem der Austausch über die Alpen in die italienischen Zentren sowie nach Deutschland und Frankreich wichtig.
Haben Sie feste Rollen oder Aufgabenverteilungen bei der Recherche und dem Schreiben?
FGB: Zuerst erarbeiten wir das gestalterische Konzept und den Inhalt. Wenn wir das fertige Buch erahnen können, teilen wir die Themen auf.
YB: Wobei mein Vater nicht über Häuser schreiben möchte.
FGB: Da es ein längerer Prozess ist und viele Themen miteinander zusammenhängen, ergänzen wir uns im Schreibprozess pingpong-artig: «Hast du dieses Bild schon gesehen oder diese Quelle gelesen?»
Wie beeinflusst der Generationenunterschied zwischen Ihnen beiden die Art, wie Sie die Geschichte Zürichs betrachten und erzählen?
YB: Nein, wir spüren keinen Generationenunterschied. Wir sind neugierig und verschaffen uns zunächst ein Gesamtbild des Themas, um es objektiv zu betrachten, ohne Scheuklappen und Ideologien. Wir stellen die Frage, wie es wohl wirklich war. Es ist ja klar, dass wir von heute mit den modernen Fragestellungen auf die jeweilige Zeit zurückschauen. Welcher Aspekt im Text mehr gewichtet wird, ist dann persönlich, diese Deutung überlassen wir dem anderen.
Wie hat die Arbeit an diesen Büchern Ihre persönliche Beziehung zur Stadt Zürich ver-ändert?
YB: Weil Zürich eine so reiche Geschichte hat, finde ich es spannend, Teile davon zu erforschen und dann journalistisch zu erzählen.
FGB: Im Kindergarten und in der Pfadi wurde ich als Romand und bilingue wie ein Fremdarbeiterkind behandelt. In der Kunstgewerbeschule bezeichnete Hans Lang, mein Vorkurslehrer, diejenigen, die aus mehreren Kulturen stammen, oft als kreativer, weil sie mehrere Zugänge zu einem Thema haben. Deswegen versuche ich immer, den Einfluss von Zürich mit der frankofonen und deutschen Welt wahrzunehmen. Ein schönes Kompliment war, als mir später der Rektor der Kunstgewerbeschule sagte, er bewundere, dass es mir gelinge, etwas von der französischen Bildsprache in meine Grafik einfliessen zu lassen.
Gibt es ein historisches Kapitel oder einen Ort in Zürich, der Sie besonders berührt oder überrascht hat?
YB: Für mich war eine Entdeckung, wie wichtig Zürich im Frühmittelalter war, als die deutschen Könige auch hier ihre Reichstage durchführten. Dies ging nur, bis Zürich freie Reichsstadt wurde. Was dann andere Aspekte wie die Einführung des Bürgermeisters und des Rates beförderte.
FGB: Die Arbeit am Buch über die Aufklärung zeigt mir, wie stark die aufklärerischen Ideen des 18. Jahrhunderts im heutigen Zürich noch präsent sind.
Welche historischen Lektionen aus der Vergangenheit sind Ihrer Meinung nach heute besonders relevant für Zürichs Entwicklung?
FGB: Als Handelsstadt war Zürich immer weltoffen. Neue Ideen werden wie früher hart verhandelt und oft leider sehr spät, aber in einer «Zürcher Variante» angenommen.
YB: Man ist immer dabei, ohne wirklich mitzumachen, und profitiert davon. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde die Stadt bewusst auf ihre Mauern und 10 000 Einwohner begrenzt, man profitierte aber vom Handel und dass viele, wie die Arbeiter und Bediensteten, in die Vororte ziehen mussten. Heute ist man mitten in Europa, will aber nicht zur EU gehören, weil man wieder kleinräumig denkt, anstatt das grosse Ganze zu sehen.
Welche unbekannten oder weniger prominenten Orte würden Sie empfehlen, um ein Gefühl für die historische Tiefe der Stadt zu bekommen?
FGB: Vom Lindenhof oder der Uni-Terrasse lässt sich das historische Zürich gut erahnen, weil man mittendrin ist.
YB: Als Höngger empfehlen wir natürlich den Blick von der Waid …
FGB: … – auf die arbeitende Stadt!
YB: Bei der Einfahrt vom See in Richtung Bürkliplatz lässt sich die historische und moderne Stadt erfassen.
Von Isabella Seemann
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