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Rückten sich fürs «Tagblatt» ins rechte (oder linke) Bild (v. l. n. r.): Andreas Farkas (Mitarbeiter Parlamentsdienste), Helen Glaser (2. Vizepräsidentin), Davy Graf (Fraktionspräsident SP), Heidi Egger (Sekretariat), Martin Bürki (Gemeinderatspräsident), Redaktor Sacha Beuth, Michael Schmid (Fraktionspräsident FDP), Elena Marti (Sekretariat), Heinz Schatt (1. Vizepräsident), Mark Richli (Sekretariat) und Andreas Ammann (Leiter Parlamentsdienste). Bild: Nicolas Zonvi

124 Alphatiere und ein Dompteur

AM PULS Wohl nirgends ist Politik in Zürich hitziger als im Rathaus bei einer Sitzung des Gemeinderats. Deren Präsident Martin Bürki braucht viel Fingerspitzengefühl, um die Kontrahenten in Zaum zu halten. Für die Serie «Am Puls» wagte sich Redaktor Sacha Beuth in die Höhle der Löwen.

Mittwoch, 16.30 Uhr. Die ersten Gemeinderätinnen und Gemeinderäte betreten, in dicke Jacken gehüllt, das Rathaus und laufen die Treppe zum Sitzungssaal empor. Drin ist es fast so kalt wie draussen. In den kommenden vier Stunden wird die Temperatur im Saal allerdings beachtlich steigen. Und dies nicht, weil die Heizung angestellt wurde. Doch davon später.

Am Ende des Saals, an erhöhter Stelle, hat Martin Bürki seinen Platz bereits eingenommen. Der 48-jährige Unternehmer und FDP-Politiker amtet seit Mai dieses Jahres als Gemeinderatspräsident. «Eine ehrenvolle Aufgabe, die ich gerne ausführe und bei der sowohl die Fähigkeiten eines Schiedsrichters, eines Kapitäns und eines Dompteurs gefragt sind.» Was er damit meint, schiebt Bürki gleich nach: «In meiner Funktion darf ich niemanden bevorzugen und habe Sorge zu tragen, dass der Kurs – also die Geschäftsordnung – für alle und von allen eingehalten wird. Das ist nicht immer leicht, denn um mich herum sitzen 124 Alphatiere, die das Gefühl haben, sie wissen alles besser.» Und wie bringt er Redner, die aus der Reihe tanzen, wieder zur Räson? Bürki schmunzelt und weist auf einen roten Knopf an seinem Pult. Damit hat er Zugriff auf jedes Mikro der Ratsmitglieder und kann, wenn nötig, den Redner abklemmen und eine Warnung aussprechen.

Mit am Präsidiumspult sitzen Heinz Schatt (SVP) als 1. Vizepräsident und Helen Glaser (SP) als 2. Vizepräsidentin. Schatt hat während der Sitzung die Abstimmungsanlage zu bedienen und die Redner freizuschalten sowie Bürki zu vertreten. Glaser wiederum muss bei Schatts Abwesenheit für diesen einspringen, die Vorstösse, welche die Gemeinderätinnen und Gemeinderäte während der Sitzung einreichen, auf ihre formale Richtigkeit überprüfen und, «wenn es zu laut ist, diejenigen, die Lärm verursachen, ermahnen und gegebenenfalls höflich vor die Tür schicken».

Inzwischen sind die meisten Ratsmitglieder eingetroffen und haben ihre Plätze, schön nach politischen Blöcken getrennt, eingenommen. Rechts vor Bürki sitzen die Vertreter von FDP, SVP, EVP und GLP. Links vor dem Gemeinderatspräsidenten SP, Grüne und AL. Auf beiden Seiten des Präsidiumpults sind auf gleicher Linie die Sitze für die Stadträte reserviert und vor Bürki, Schatt und Glaser haben Andreas Ammann (Leiter Parlamentsdienste) und das Gemeinderatssekretariat mit Heidi Egger (SP), Elena Marti (Grüne) und Mark Richli (SP) ihre Pulte. Ein Platz neben dem Eingang gehört Andreas Farkas, der als Mitarbeiter der Parlamentsdienste die Vor- und Nachbearbeitung des Beschlussprotokolls übernimmt.

Kurz nach 17 Uhr läutet Bürki die Glocke zum Zeichen, dass die Sitzung beginnt. Nur geht der Klang im allgemeinen Lärmpegel beinahe unter, genauso wie die Begrüssung, und auch beim ersten Redner – Stefan Urech (SVP), der sich zur Dringlichkeit einer Motion zur zweckmässigen Sanierung des Pfauen äussert – ist es immer noch so laut, dass Glaser alle Hände voll zu tun hat, um für Ruhe zu sorgen.

Insgesamt 20 Geschäfte sind für diesen Tag auf der Traktandenliste aufgeführt. Bei den ersten sechs handelt es sich um «Vorstösse ohne Diskussion», die auch relativ schnell abgehandelt werden. Die meisten Parlamentarier konzentrieren sich eher darauf, sich mit ihren Parteimitgliedern über künftige Geschäfte abzusprechen und bei Mitgliedern anderer Parteien mögliche Deals auszuloten. Wieder andere suchen Andreas Ammann auf, um sich bei ihm Rat zu holen, wann und in welcher Form eine geplante Eingabe erfolgen muss oder wie sie auf der Datenbank der Parlamentsdienste am einfachsten zu Infos für ein Geschäft gelangen. Der gibt geduldig Auskunft, muss aber mit einem Ohr immer den Sitzungsablauf mitverfolgen, um Bürki auf allfällige Verstösse gegen die Gemeinde- oder Geschäftsordnung hinzuweisen.

Als es bei Traktandenpunkt 9 um den Objektkredit für das Alterszentrum und die Wohnsiedlung Eichrain geht, wird die Sitzung ein erstes Mal emotionaler. Die Rechte findet, dass man Alterszentrum und Wohnsiedlung getrennt betrachten müsste, und pocht auf die «Einheit der Materie». Die Linke wiederum sieht keinen Grund, das Anliegen zu trennen. Bei der anschliessenden Abstimmung hat der Rückweisungsantrag der SVP keine Chance und wird abgeschmettert. Auch um die Weisung bezüglich der Miete eines Mediacampus in Altstetten herrscht Uneinigkeit. Noch aber verläuft alles im gesitteten Rahmen. Etwas in Stress gerät einzig Elena Marti, die – als sie sich freischalten lässt, um ihr Postulat zum Projekt Dosendealer vorzustellen – von ihrem Sekretariatssitz zu ihrem Gemeinderatssitz eilen muss.

"Wir sind hier nicht in der Kirche"

Vor der Beratung des Postulats von SP, Grünen und AL bezüglich Reorganisation der Verwaltung gibt Bürki den Hinweis, dass es im Foyer Sandwichs zur Zwischenverpflegung gebe. Während die einen essen, diskutieren die anderen relativ gesittet und ohne grösseres Stadtrats-Bashing von links und rechts den Vorstoss. Doch bei der anschliessenden Diskussion um die Züri City Card erreicht die Temperatur im Saal beinahe den Siedepunkt. Aus dem linken Block erklingen abfällige Bemerkungen über die Bürgerlichen («Die SVP kann man in dieser Debatte eh nicht brauchen»), was nicht nur bei dieser, sondern auch bei FDP-Fraktionspräsident Michael Schmid Kopfschütteln und Empörung auslöst. Im Gegenzug wirft die SVP den Linken «Barbarentum» vor, worauf SP-Fraktionspräsident Davy Graf sich erhebt und auffordernd Richtung Gemeinderatspräsident blickt, doch endlich einzugreifen. «Ich hatte die Hand auch schon am roten Knopf, aber zum Glück hat sich der Redner dann von selbst gemässigt», nimmt Martin Bürki Stellung, nachdem er kurz nach 21 Uhr die Sitzung beendet hat. Graf und Schmid haben die Angelegenheit auch schon wieder abgehakt. Ohnehin würde Bürki einen guten Job machen, sagen beide unisono. «Wenn es mal lauter wird, ist das okay. Wir sind hier ja nicht in der Kirche», findet Schmid, während Graf die «guten und spannenden Themen» hervorhebt, die heute besprochen worden seien. So sehen das auch die beiden Präsidiumsvize und die Sekretariatsvertreter, für die stellvertretend Heidi Egger das Fazit spricht: «Alles in allem war das heute eine typische Sitzung. Nur dass sie mit vier Stunden ziemlich nahrhaft war.»

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06. November 2018

Von: Sacha Beuth

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