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Martin Bürki möchte den Quartiervereinen eine wirkdsamere Stimme verpassen. Bild: Nicolas Y. Aebi

Der Wadenbeisser

Von Affoltern bis Wollishofen: Durch die altehrwürdigen Quartiervereine weht ein frischer Wind. Martin Bürki, neuer Präsident der Quartierkonferenz, will mit dem Dachverband die 25 Stadtzürcher Quartiervereine stärken, sichtbarer machen – und notfalls auch mal auf den Tisch hauen. 

Ich bin kürzlich nach Zürich-Fluntern gezogen und liebäugle, dem Quartierverein beizutreten. Nutzen Sie zu Beginn des Interviews die Chance, mich davon zu überzeugen.
Martin Bürki: Quartiervereine bieten eine gute Einstiegshilfe, um an zahllosen Anlässen Kontakte zu den Alteingesessenen im Quartier zu knüpfen. An eigens organisierten Veranstaltungen erhält man von den Behörden Informationen aus erster Hand zu Neuerungen wie Bauvorhaben im Quartier. Man kann seine Anliegen direkt einbringen und bekommt Zugang zum Netzwerk der Quartiervereine. Ausserdem kann man sich nachhaltig ehrenamtlich fürs Quartier engagieren – das gibt ein gutes Gefühl.

Identifiziert man sich denn heute noch als Fluentermer, Engemer oder Wipkinger, oder ist man nicht einfach nur Stadtzürcher?
Unsere Neuzuzügerapéros in den Quartieren sind der absolute Renner. Das Lokale boomt in jeder Hinsicht – und so besinnt man sich auch wieder der nächsten Umgebung und entwickelt mit der Zeit ein Zugehörigkeitsgefühl. Wir erfahren viel Zuspruch von jungen Leuten. Dafür haben die Quartiervereine aber auch die Strukturen ihren Bedürfnissen angepasst.

In welcher Hinsicht?

Die Quartiervereine arbeiten vermehrt auf Projekte bezogen. Heute sind viele Leute beruflich und mit der jungen Familie stark eingebunden, weitere langfristige Verpflichtungen schrecken sie ab. Mit neuen Strukturen ermöglichen wir jenen, die sich in der Freiwilligenarbeit engagieren möchten, für die Dauer eines Projekts oder nur zu gewissen Themen, von denen sie betroffen sind, mitzuarbeiten, wie der Organisation von kulturellen Veranstaltungen. Durch diese Umstellung sind viele neue und tolle Projekte zustande gekommen, wie ein Open Air in Wollishofen, das der Quartierverein mit einer Anschubfinanzierung, mit Know- how und den Kontakten zur Stadtverwaltung unterstützte.

Wo drückt den Quartiervereinen der Schuh?
Bei 25 Quartiervereinen ist das schwierig zu beantworten, denn jedes Quartier hat seine eigenen ­Bedürfnisse und Probleme und diese müssen auch lokal gelöst werden. Bewohner neuer Siedlungen in Oerlikon klagen über Vandalismus, im Niederdorf kämpfen sie gegen überbordenden Lärm, in Wollishofen hadern sie mit den  Schulpavillons, in den Quartieren rund ums Seebecken ist Littering ein Problem und in Wiedikon ­stören sich viele an den Exzessen im Friedhof Sihlfeld. Die Stärke der Quartiervereine liegt just darin, dass sie die lokalen Bedürfnisse und Nöte kennen und enge Kontakte zur Stadtverwaltung pflegen, um die Schwierigkeiten anzugehen.

Wo sehen Sie als neuer Präsident der Quartierkonferenz die grösste Herausforderung?
Ein Thema, das derzeit alle Quartiervereine beschäftigt, ist die Zusammenarbeit mit der Stadt. Nach unserem Empfinden hat sich das Verhältnis in den letzten Jahren merklich abgekühlt.

Können Sie das begründen?
Ein Beispiel für diese gefühlte Entfremdung war die von der Stadt organisierte Quartierkoordination, mit der sie eine Parallelstruktur zu den Quartiervereinen aufbauen und die Freiwilligenarbeit durch staatliche Abteilungen direkt konkurrenzieren wollte, was allerdings im Gemeinderat stark umstritten war und dann nicht realisiert wurde. Nun versucht es die Stadt erneut mit den so genannten «Drehscheiben», ein 1,9 Millionen teures Pilotprojekt für städtische Anlaufstellen in Quartieren, die gemäss Beschreibung ihrer Medienmitteilung letztlich ähnliches leisten sollen wie die auf Basis von Freiwilligenarbeit tätigen Quartiervereine und die fast in allen Quartieren vorhandenen Gemeinschaftszentren. Eine Drehscheibe kostet so viel wie 15 Quartiervereine jährlich. Da stellen wir uns schon die Frage nach dem Grund.

Konflikte gibt es auch immer wieder in den Quartieren. Haben Sie sich auf den Part des Nörglers festgelegt?
Nein, die Quartiervereine handeln nicht eigenmächtig, sondern nehmen auf, was von den Quartierbewohnern an sie herangetragen wird. Die Stadt plante mal, alle Unterführungen am Mythenquai aufzuheben und durch Fussgängerstreifen ohne Ampeln zu ersetzen, unter anderem bei der Badi Mythenquai, wo täglich Hunderte von Kindern die Unterführung benutzen.  Das führte zu Protesten im Quartier Wollishofen, und wir organisierten eine Veranstaltung mit dem verantwortlichen Stadtrat, der das Projekt zusammen mit einigen seiner Mitarbeiter vorstellte. Sie mussten feststellen, dass die überwiegende Mehrheit der anwesenden Quartierbevölkerung ihren Plan zur Aufhebung der Fussgängerunterführung eine ganz schlechte Idee fand – und schliesslich musste die Stadt nochmals über die Bücher und zog das Projekt zurück.

Auch das städtische Projekt «Brings uf d’Strass!», mit dem das Tiefbauamt der Stadt Zürich ausgewählte Quartierstrassen während der diesjährigen Sommerferien verkehrsfrei und vielfältiger nutzbar machen wollte, sorgte bei manchen Quartiervereinen für Unmut. Was stört Sie daran?
Im Fall des Projekts «Brings uf d’Strass!» fürchteten die bereits von Lärm geplagten Bewohner noch zusätzliche Lärmbelästigungen am Abend wegen Zusammenkünften und Veranstaltungen auf der Strasse. Sie benötigen keine Bespassung ihres Quartiers. Manchmal müssen wir gegenüber der Stadtverwaltung mit für sie unangenehmen Meinungen auftreten und die Rolle als Wadenbeisser übernehmen.

Gefällt Ihnen diese Rolle?
Ich rede gerne mit allen Leuten, um gemeinsam Kompromisse und Lösungen zu finden. Aber manchmal ist es nötig, Klartext zu reden. So hat die Quartierkonferenz in einer Medienmitteilung als Reaktion auf besagte Medienmitteilung der Stadt über das neue Pilotprojekt für Drehscheiben für die Quartiere ihr Erstaunen über das Vorgehen und die Kommunikation der Stadt festgehalten. Wir rechneten mit einer Vorlage im Gemeinderat, die man dann breit diskutieren kann. Wir hätten uns hier eine enge Zusammenarbeit gewünscht. Denn wir stellen den Mehrwert der neuen Drehscheiben in Frage. Eine Einladung der Stadt zum Gespräch erfolgte erst, nachdem wir auf den Tisch gehauen haben.

Vor fünf Jahren begann die Stadt die Arbeit der Quartiervereine, insbesondere die Schnittstellen, zu überprüfen. Wie schätzen Sie diese Studie soweit ein?
Es ist die Aufgabe der Stadt, regelmässig die Ausgaben zu überprüfen. Die Stadt stellte aber auch in Frage, ob die Quartiervereine zeitgemäss sind. Wir sind gestärkt aus diesem Prozess herausgegangen und erhielten mehr Aufgaben als zuvor. Die Quartiervereine sollen nun eine Vernetzungskonferenz zwischen den einzelnen Vereinen im Quartier organisieren, um ihre Bedürfnisse zu koordinieren.
Gleichwohl haben die Quartiervereine Ihre Stellung als zentraler Ansprechpartner der Stadt Zürich eingebüsst. Neu soll es zwei bis drei Organisationen geben. Alle Vereine haben selbstredend ihre Daseinsberechtigung. Quartiervereine können mit ihrer Freiwilligenarbeit nicht alles abdecken. Aber die Quartiervereine sind beständig, es gibt sie seit über 100 Jahren, und wir haben eine Charta mit der Stadt, die mit zahlreichen Pflichten und Qualitätsanforderungen einhergeht. Eine Gleichstellung kurzlebiger Organisationen halte ich nicht für sinnvoll.

Was ist der Stand der Dinge heute?
Die Stadt und die Quartiervereine haben das gleiche Ziel: Wir wollen die Stadt lebenswerter machen und dafür sorgen, dass sich die Leute, die im Quartier leben, wohl fühlen. Insbesondere jetzt, wo die Stadt  mit den neuen Richtplänen die Quartierzentren massiv stärken möchte, passt der Lokalbezug, den die Quartiervereine bieten, perfekt ins Bild. Und deshalb wäre es erfreulich, wenn wir gut zusammenarbeiten können und ein enger Austausch besteht.

Welche Macht hat eigentlich die Quartierkonferenz in der Stadt?
Die Quartiervereine haben keinerlei Macht und keinerlei Kompetenz etwas zu entscheiden. Aber sie haben das Potential Leute zusammenzubringen und gemeinsam mit der Stadt die Probleme der Bevölkerung anzugehen.

Was sind Ihre Pläne und Visionen als neuer Präsident der Quartierkonferenz?
Die Quartierkonferenz soll die einzelnen Quartiervereine stärken, sie vermehrt unterstützen und ihnen eine wirksamere Stimme verschaffen. Ich möchte dafür sorgen, dass die Charta, die die Quartiervereine mit der Stadt haben, in der die Qualitätsstandards und die Verpflichtungen aufgeführt sind, auch umgesetzt wird. Ausserdem will ich die Zusammenarbeit mit der Stadt verbessern. Eine weitere wichtige Aufgabe wird sein, die Quartiervereine bekannter zu machen unter dem Motto: Tue Gutes und sprich darüber. Alle lieben die Räbeliechtli-Umzüge, aber nur wenige wissen, dass die Quartiervereine diese organisieren.

Inwieweit verknüpfen Sie Ihre Tätigkeit als Gemeinderat mit Ihrem Amt als Präsident der Quartierkonferenz?
Es ist enorm wichtig, dass die Quartiervereine diesen direkten Draht zur Politik haben. Deshalb haben Balz Bürgisser, Präsident des Quartiervereins Witikon, und ich bereits zuvor im Gemeinderat die IG Quartiervereine gegründet, um die Anliegen koordinieren zu können. Und wenn man die Stadträte allwöchentlich sieht, lässt sich manches auch auf informellem Wege erledigen.

Sie haben es als Berner zum höchsten Zürcher, zum Gemeinderatspräsidenten, gebracht, nun sind Sie Präsident der Quartierkonferenz. Was sind Ihre Ambitionen?
Diese Ämter und Positionen habe ich nicht gesucht, sondern sie sind eine Folge meines Engagements. Ich fühle mich zufriedener, wenn ich mich einbringen, meine Meinung kundtun und Einfluss nehmen kann, um etwas Besseres zu bewirken. Das ist für mich Lebensqualität. Grundsätzlich kann ich beim Quartierverein vieles konkret umsetzen und verbessern, während sich im Gemeinderat die politischen Lager gegenseitig zerfleischen.

13. August 2021

Von: Isabella Seemann

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