mobile Navigation

Die Hänge-Buche vor dem ehemaligen Restaurant Crown of India in

Ein Baum wirft seinen Schatten auf die Stadtplanung

In Zürich-Witikon beherrscht eine über 70 Jahre alte Hänge-Buche das Bild des Quartierzentrums. Jetzt muss sie einem Neubau weichen. Dagegen regt sich seit einigen Wochen Widerstand. Der Architekt und der Bauherr zeigen sich irritiert. Die exemplarische Geschichte eines städtebaulichen Spannungsfelds.

Kühle, Schönheit, Grösse, eine grüne Wohlfühloase, nicht nur ein über Jahrzehnte gewachsenes Stück Natur in der Stadt, sondern nachgerade ein Wunderwerk, ein Faszinosum, changierend in seinen Farben im Lichtspiel der Sonne und der Jahreszeiten; das waren die Assoziationen, die in Franziska Nogara erweckt wurden, wenn sie unter diesem Baum sass, einer mächtigen Hänge-Buche, gepflanzt vor über 70 Jahren an der Witikonerstrasse 375.

Bis vor Kurzem befand sich an dieser Adresse das Restaurant Crown of India, und die Hänge-Buche war nicht nur ein Markenzeichen des Lokals, sondern auch für viele gleichsam ein markanter Bezugspunkt, ein Anker der Vertrautheit für das Quartier Witikon mit seinem dörflichen Charakter, der sich seit geraumer Zeit indessen im Umbruch befindet.

Verliebt in den Baum
Franziska Nogara fuhr jeweils von ihrem Wohnort in Zürich-Seebach herauf, um hier, im Schatten der alten Hänge-Buche, eine Freundin zum Mittagessen und zu einem Schwatz zu treffen. «Ich verliebte mich in diesen Baum», sagt sie. «Bäume sind eine Quelle des Wohlbefindens, der Freude. Wir müssen Bäume ehren und schützen. Und gerade die Witiker Hänge-Buche zeigte mir das auf eindrückliche Weise.» Durch das Blätterrauschen erzählte dieser Baum gleichsam eine lange Geschichte, von den Zeiten, als sich hier noch die Konditorei Zahnd befunden hatte. Als das schlichte Haus 1946 erbaut wurde, pflanzte der berühmte Zürcher Landschaftsarchitekt Gustav Ammann, der bereits die Gärten der Landi 1939 konzipiert hatte, die Hänge-Buche als Ziergewächs vor die Liegenschaft.

Anfang dieses Jahres allerdings geschah etwas, das Franziska Nogara fortan keine Ruhe mehr lassen würde. Plötzlich waren um das Haus herum Bauprofile aufgestellt, «und sie standen extrem nahe an der Hänge-Buche», erzählt sie.

Für Franziska Nogara kündigten diese Profile Ungutes an, eine Bedrohung schien aufzuziehen. «Ich verlangte deshalb Einsicht in das Bauprojekt.» Was ihr die Pläne zeigten, bestürzte sie. Auf dem Grundstück sollte ein Ersatzneubau entstehen, ein Mehrfamilienhaus mit 14 Mietwohnungen. Für die alte Hänge-Buche war in diesen Plänen keine Zukunft mehr vorgesehen, ihre Fällung schien beschlossene Sache. In Franziska Nogara reifte die Erkenntnis heran: Sie musste diesen Baum retten, der Gedanke, genährt durch den Dünger der Empörung, schlug in ihr jene Wurzeln, die stark genug sind, eine Mission daraus wachsen zu lassen.

Was seither an der Witikonerstrasse 375 vor sich geht, ist eine Geschichte, in der Emotionen auf planerische Nüchternheit treffen. Es ist eine Geschichte des Protests, des Engagements und der Verbundenheiten mit einem Quartier. Sie dreht sich um die Frage, wie die Zukunft der Stadt gestaltet werden und welche Rolle die Natur darin einnehmen soll. Es ist eine Geschichte der Visionen einerseits und der Sehnsucht nach dem Vertrauten andererseits. Die Geschichte der Witiker Hänge-Buche steht exemplarisch für den Wandel und die Spannungsfelder, welche die wachsende und verdichtete Stadt mit sich bringt.

Franziska Nogara veröffentlichte einen Aufruf im Quartieranzeiger, in dem sie Unterstützer aus dem Quartier im Kampf gegen die Baumfällung suchte. Die Chance, mittels einer Einsprache die Hänge-Buche doch noch retten zu können, war zu diesem Zeitpunkt bereits verpasst worden. «Ich hatte als Auswärtige keine Möglichkeit, Einsprache zu erheben, und mir fehlten die nötigen Kontakte in Witikon. Das war ja alles Neuland für mich.»

Das «Todesurteil»
Gleichwohl löste ihr Furor im Quartier Bewegung aus. Besorgte Witiker stellten sich hinter das Anliegen, darunter auch quartieransässige Architekten. Es entstand eine spontane Bürgerinitiative, die sich auch von verpassten Einsprachefristen ihren Kampfgeist nicht nehmen liess.

Die Gruppe veröffentlichte Leserbriefe im Quartieranzeiger und einen offenen Brief an den Eigentümer der Liegenschaft, selbst ein alteingesessener Witiker. Im Kern forderten die Baumfreunde eine komplette Umplanung des Bauvorhabens, konkret die Ausarbeitung einer Variante für ein Wohnhaus, bei dem die Hänge-Buche erhalten bleibt.

Überdies, monierten die Initianten, täusche die Visualisierung des geplanten Ersatzneubaus. Eine öffentliche Nutzung im Erdgeschoss in Form einer dringend nötigen Quartierbeiz, wie es das Projekt ursprünglich vorgesehen habe, gebe es in Wahrheit nicht, für die Witiker Bevölkerung und das Quartier habe der Neubau an dieser zentralen Lage mithin überhaupt keinen Mehrwert.

Kritisiert wurde auch die Haltung von Grün Stadt Zürich; die Dienstabteilung habe letztlich das «Todesurteil» über die «derzeit gesunde» Hänge-Buche gefällt, indem sie den Baum nicht unter Schutz gestellt und aufgrund ihres Gutachtens grünes Licht für eine Fällung gegeben habe.

Leserbriefe, Inserate oder offene Briefe waren ein Mittel, um der Mission Nachdruck zu verleihen. Ein noch viel augenfälligeres wählte die Gruppe Anfang April mit einer kleinen Protestaktion vor der bedrohten Hänge-Buche. Die Transparente sollten Klartext sprechen: «Bäume sind beseelt», «Rettet den schönsten Baum von Witikon!», «Dieser Baum bleibt!!», und: «Leben oder Tod?» Seit dieser ersten Mini-Demonstration treffen sich die Baumfäll-Gegner jeden Freitagnachmittag zu einer Protestwache vor dem Privatgrundstück.

Das öffentliche Interesse
Irritiert, ja geradezu betroffen von dieser emotionalen Dynamik zeigen sich besonders zwei Parteien: Der Witiker Eigentümer und Bauherr sowie der Architekt Stefan Oeschger, der mit seinem Zürcher Architekturbüro JOM den Ersatzneubau entworfen hat.

Auf ihrer Seite wissen sie den Kommunalen Richtplan der Stadt Zürich. Er weist das Grundstück als Teil eines städtebaulich relevanten Verdichtungsgebiets in einem Quartierzentrum aus. Das öffentliche Interesse, das im Richtplan festgelegt werde, wiege höher als der Erhalt eines einzelnen Baumes, argumentiert Architekt Stefan Oeschger. «Mit dem Erhalt der Hänge-Buche kann die Ausnutzung auf der Parzelle und die eben im Richtplan gewünschte Verdichtung nicht gewährleistet werden. Wir haben sehr früh die Sachlage mit dem Baum abgeklärt. Uns war die Problematik also durchaus bewusst.»

Im Verständnis des Architekten entwickelt sich eine Stadt in Zyklen, und die geforderte Verdichtung ist Ausdruck eines zukunftsorientierten und ökologischen Städtebaus. Veränderungen seien angesichts dessen unabdingbar. «Dass diese Veränderungen Besorgnis auslösen können, ist verständlich. Auch mir tut es weh, einen alten Baum zu opfern, aber man muss sich auch eingestehen, dass die Stadt davon lebt, dass sie sich verändert. Und schliesslich hatte das alte Café Zahnd damals, Ende der 1940er-Jahre, auch keine grossen Bäume.»

Das Gutachten von Grün Stadt Zürich kam aufgrund mehrerer Begehungen des Grundstücks zum Schluss, dass der Baum einen «massiven Stammschaden» aufweise und sich gegen die Strasse hin neige. Kurz- bis mittelfristig könne die Verkehrssicherheit nur durch einen sogenannten Kronenentlastungsschnitt gewährleistet werden, der allerdings die Lebenserwartung der Hänge-Buche deutlich verkürzen würde. Eine Unterschutzstellung sei ohne gesetzliche Basis. Dem Eigentümer des Privatgrundstücks stehe es frei, den Baum zu fällen.

Zudem, macht Stefan Oeschger deutlich, sei der Baum nicht mehr klimakompatibel. «An heissen Monaten leidet die Buche sehr. Das Klima wird sich weiter verändern, das ist eine Realität.» Das Risiko, das von der Hänge-Buche ausgehe, trage schliesslich der Bauherr.  Der Architekt stellt eine Frage in den Raum: «Stellen Sie sich vor, ein Kind wird von einem herabfallenden Ast erschlagen. Wer ist dann schuld?» Als Ersatzpflanzung sieht das Bauprojekt eine Waldföhre oder einen Schnurbaum vor. «Eines Tages werden diese neu gepflanzten Bäume auch gross sein und dem Haus und dem Vorgarten im Sommer willkommenen Schatten spenden», sagt Stefan Oeschger.

Besonders bitter ist für den Architekten der Vorwurf, ökologisch wertvollen Grünraum vernichten zu wollen; immerhin engagiere sich sein Büro seit der Gründung in verschiedenen Netzwerken für eine nachhaltige Architektur, welche die Herausforderungen des Klimawandels aufnimmt.

Auch die Diskussion um die Erdgeschossnutzung erscheint dem Bauherrn und dem Architekten nicht fair geführt. Der Eigentümer habe von Beginn weg den Wunsch für ein Café oder eine Dorfbeiz im Erdgeschoss geäussert. «Zusammen mit einem Gastroplaner erarbeiteten wir ein fixfertiges Konzept, das umsetzbar wäre», betont Stefan Oeschger. «Alle Anschlüsse und Leitungen werden eingelegt.»

Allerdings treffen hier gleich zwei Punkte zusammen, die ebenfalls ein Licht auf die gesamtstädtische Situation werfen. Zum einen ist da die Parkplatzfrage. Die Anzahl der Parkplätze vor der Liegenschaft musste im Ersatzneubauprojekt von zwölf auf drei reduziert werden. Dazu kommt die relativ abgelegene Lage des Quartiers Witikon. Unter diesen Umständen einen Gastrounternehmer zu finden, der das Lokal mit 50 Plätzen rentabel betreiben kann, sei äusserst schwierig, so Stefan Oeschger. «Sie können sich gar nicht vorstellen, wie unglaublich komplex die Auflagen der Stadt Zürich sind für ein öffentliches Lokal: Kühlräume, separate WCs, Speziallüftungen, Lieferflächen, Hygienevorschriften. Das kostet alles.» Ein Spekulant, ist der Architekt überzeugt, würde im Erdgeschoss einfach Wohnungen realisieren und sich nicht um die Quartierbedürfnisse scheren. Vorderhand sollen nun Büros ins Erdgeschoss einziehen. Der Wunsch des Bauherrn bleibe es aber, in Zukunft ein Café oder Bistro einzurichten.

Wandel und Konflikte
Der zweite Punkt, der in der Causa um die Hänge-Buche und die Nutzung des Ersatzneubaus berührt wird, sind die Quartierentwicklung und das Bedürfnis, die vertrauten, zum Teil noch dörflichen Strukturen in einer Zeit des Wandels bewahren zu können. Gerade in Zürich-Witikon zeigte sich dieser Konflikt immer wieder deutlich.

Anfang Juni unterlag der Heimatschutz dem Verwaltungsgericht im jahrelangen Streit um das historische Witiker-Huus. Das Gebäude aus dem Jahr 1842 darf abgebrochen werden und soll einer Wohnüberbauung weichen. In der Vergangenheit wurden zudem die Sekundarschule, der Polizeiposten und die Filiale einer Grossbank in Witikon aufgehoben. Ebenso schlossen gleich mehrere Restaurants im Quartier, etwa das Buchzelg, das Suan Long oder das beliebte Restaurant Elefant.

Und bereits sorgt ein neues Grossbauprojekt für Unruhe. Im Gebiet Buchholzstrasse / Buchzelgstrasse soll die alte Wohnsiedlung abgetragen und das Areal komplett neu überbaut werden mit 135 Wohnungen. Kritiker sehen Witikon bereits als das «neue Eldorado» zur Verwirklichung renditeträchtiger Projekte unter dem Deckmantel der Verdichtung im Sinne der Bau- und Zonenordnung. Bereits hat sich eine Interessengemeinschaft gebildet, die gegen das Projekt kämpfen möchte.

Auch an der Witikonerstrasse 375 soll das Aufbegehren weitergehen, selbst wenn der Zug für die Freunde der Hänge-Buche mit der verpassten  Einsprachefrist realistisch gesehen abgefahren ist. «Es geht uns darum, Position zu beziehen», sagt Franziska Nogara von der Baumgruppe, «zu zeigen, dass man nicht alles einfach tolerieren muss.»

Wenn das Baubewilligungsverfahren abgeschlossen ist, soll Ende dieses Jahres mit dem Abbruch und Anfang 2021 schliesslich mit dem Neubau begonnen werden. Aus der Auseinandersetzung nimmt Architekt Stefan Oeschger eine emotionale Erfahrung mit: «In meiner Karriere als Architekt habe ich so etwas noch nie erleben müssen. Der Protest nimmt für mich durchaus zum Teil fast schon esoterische, religiöse Züge an», sagt er. Konsterniert habe ihn vor allem auch der gehässige Ton, welcher gegenüber dem Bauherrn mitunter angeschlagen werde. «Ich bin keineswegs gegen Bürgerinitiativen. Sie sind wertvoll. Aber sobald zu starke Emotionen einfliessen, ist eine sachliche Diskussion nicht mehr möglich.»

Wenn die alte Hänge-Buche gefällt wird, möchte die Protestgruppe nicht untätig zusehen. «Ein Mitglied meinte, er wolle sich an den Baum ketten, um ein Zeichen zu setzen», sagt Franziska Nogara. «Ganz sicher werden wir ein Ritual veranstalten, um der Hänge-Buche die letzte Ehre zu erweisen.»

Jeden Freitag demonstriert eine Gruppe von Baumfreunden gegen die Fällung der über 70 Jahre alten Hänge-Buche.

Der Ersatzneubau an der Witikonerstrasse 375. Visualisierung: JOM Architekten

16. Juni 2020

Von: Jan Strobel

«  Rijad Ramadani  Ein Traum wird zum PR-Gag»
zurück zu Video

Artikel bewerten

Gefällt mir 5 ·  
5.0 von 5

Leserkommentare