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Lesen, worüber man spricht

NEUE ZÜRCHER BÜCHER: Das «Tagblatt» empfiehlt drei neue Romane, die zu reden geben. Darunter die Geschichte einer Generation, die nicht erwachsen werden darf

Willi Wottreng: «Lülü», Bilger-Verlag, März 2015, 34 Franken.

Die Gemeindearbeiter machen eine schauerliche Entdeckung, als sie wegen Grabschändung zum Riedwiler Friedhof gerufen werden. Anstelle des verstorbenen Archäologen Amin de Trey liegt unrechtmässig seine Gattin im Sarg – mit einem Fremden. Bei Letzterem handelt es sich um den Jenischen Anton Moser, der mit liebenswürdiger Dreistigkeit durchs Leben vagabundierte. Ein Lülü. Von Ersterem fehlt jede Spur. Das ist selbst den alteingesessenen Dorfbewohnern zu viel, die sich allerhand gewohnt sind, sichtet man im Tal doch regelmässig UFOs. Der pensionierte Gemeindeschreiber geht der Sache nach, hört sich am Stammtisch um, wühlt in den Akten, versucht sich auf vergangene Vorkommnisse einen Reim zu machen. «Dreht man das Kaleidoskop ein wenig, erscheinen dieselben Objekte in völlig neuem Muster.» Vielleicht steckt dahinter eine Dreiecks­beziehung? Autor Willi Wottreng, der seit Jahrzehnten im Chräis Chäib lebt und arbeitet, hat grosses Renommee erlangt durch seine feinsinnigen Reportagen und Biografien über Leute an den Rändern der Zürcher Gesellschaft, wie Hells- Angels-Gründer Tino, das Gangsterduo Deubelbeiss und Schürmann sowie Alfred Eschers Tochter Lydia Welti-Escher. Nicht minder realitätsnah und handfest sind seine Romanfiguren. Aber dieser Autor weiss auch meisterlich zu fabulieren. Sein Romanerstling ist ein Schelmenstück par excellence.

Adrian Witschi: «Hoffentlich ist niemand verletzt», Salis-Verlag, Februar 2015, 29.80 Franken.

«Erwachsensein», das ist das Wort, gegen das der 30-jährige Zürcher Vinzent anrennt wie gegen eine Wand aus Stahlbeton. Es gibt einfach keinen Weg dorthin, der Druck zur Selbstinfantilisierung ist zu gross. Vinz lebt im Ungefähren, schwankt zwischen Selbstüberschätzung und Komplexen. Irgendwas mit Medien will er machen, Pläne fürs Leben hat er keine, Entscheidungen überlässt er dem Zufall, umso mehr verliert er sich in Nebensächlichkeiten. Er reist ohne seine Freundin Ava zu einer Hochzeitsfeier nach Bali, strandet aber zunächst in ­Jakarta. Er folgt einem australischen Nichtsnutz ins Nachtleben, schmeisst Pillen rein und landet schliesslich mit zwei jungen Asiatinnen im Hotelzimmer.

Während er sich vergnügt, geschieht auf der Strasse unterhalb seines Hotelfensters ein Unfall. «Hoffentlich ist niemand verletzt», denkt er beiläufig. Bei seiner Rückkehr nach Zürich macht sich nicht nur eine Geschlechtskrankheit bemerkbar, seine Freundin eröffnet ihm auch noch, dass er Vater werde. Die rund hundertseitige Novelle überzeugt nicht nur mit treffsicheren Figurenzeichnungen der saturierten und umso sinnhungrigeren Um-die-Dreissig-Jährigen, sondern auch mit einem rasanten Erzähltempo. Dass der 34-jährige Adrian Witschi, der selber Germanistik, Philosophie und Geschichte studierte, als Kulturjournalist arbeitete und seit zehn Jahren regelmässig nach Indonesien zum Surfen reist, es schafft, dass sich junge Zürcher in seinem Roman erkennen, bescherte dem Autor das Prädikat «Chronist der Generation Y».

Dieter Bachmann: «Die Gärten der ­Medusa», März 2015, Limmat-Verlag, 29.80 Franken.

«Die bauen ein Schiff, ein grosses. Einen Ozeandampfer. Es kommen nur Gärten an Bord.» In schnellem Stakkato beginnt Dieter Bachmanns Geschichte einer Reise, die in einem Rätsel endet. Dieter Bachmann, der dieses Jahr 75 Jahre alt wird, war Chefredaktor der Zeitschrift «Du» und Leiter des Istituto Svizzero di Roma, und lebt in Umbrien und Zürich. Eine rettende Arche wäre das, was Theo Wild, das Alter Ego Bachmanns und der Protagonist des Romans, sich wünscht. Der Anthropologe streift als Flaneur durch berühmte, weniger berühmte und private Gärten Europas – im Kopf die abendländische Philosophie und die Erinnerungen an ein gelebtes Leben. Es wird nicht beschaut und geordnet, sondern kreuz und quer durchlebt mitsamt dem Klaren und dem Trüben, der Liebe und der Wut darin. Erste Szene: in der Zürcher Bäckeranlage sitzen, mit dem Griechen Borbakis palavern, weiter­ziehen in eine Zürcher Bar. Nächste ­Szenen: Paris, Berlin, Tessin, Rom. Ein Roman, der Ruhe braucht. Sich im Rieterpark auf eine Bank setzen, das Buch hervornehmen und darin lesen, in Gedanken abschweifen, weiterlesen, in der Seele getroffen werden durch einen Satz wie «Eines Tages, wenn ich tot bin, wirst du meine Wärme vermissen.»

 

26. Mai 2015

Von: Isabella Seemann

«  Die Stille beruhigt ihn,...  Ist mein Hund...»
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