Als Tiere die Stadt bewegten
Hunde zogen Milchkannen, Ochsen Bierfässer und Pferde Tramwagen: Um 1900 wimmelte es in der Stadt Zürich von Schwerarbeitern mit vier Beinen. - Von Isabella Seemann
Hunde zogen Milchkannen, Ochsen Bierfässer und Pferde Tramwagen: Um 1900 wimmelte es in der Stadt Zürich von Schwerarbeitern mit vier Beinen. - Von Isabella Seemann
Des Morgens hallte stets ein Klappern durch die Witikonerstrasse – der Milchmann kam mit seinem zweirädrigen Karren, gezogen von zwei kräftigen Bernhardinern. Auf dem Holzwagen waren glänzende Milchkannen festgezurrt. Vor den Villen hielt das Trio. Geübt schöpfte der junge Bursche frische Milch in Glasflaschen. Dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung, begleitet vom fröhlichen Johlen der Kinder. Noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts waren Hundefuhrwerke allgegenwärtig in der Stadt Zürich. Über 200 Zughunde waren um 1900 registriert. Besonders kleinere Händler und Produzenten – Metzger, Bäcker, Gärtner, Krämer oder Milchlieferanten – nutzten die Kraft und Zuverlässigkeit der Hunde, um ihre Waren auszuliefern.
Für schwere Lasten kamen Pferde und Ochsen zum Einsatz. Eine regelrechte Sensation war das Rösslitram: Am 5. September 1882 eröffnete die «Zürcher Strassenbahn-Aktiengesellschaft» mit 20 Wagen und 81 Pferden die ersten beiden Pferdebahnlinien. Zur Blütezeit waren sogar doppelt so viele Wagen und 208 Ardenner im Einsatz. Bei der Viehzählung von 1911 registrierte man in Zürich 2928 Pferde – die höchste Pferdedichte landesweit. Doch diese tierischen Helfer brachten nicht nur Bewegung in die Stadt, sondern auch eine gewaltige Geräusch- und Geruchskulisse: Das Bellen, Muhen, Wiehern und das Klappern beschlagener Hufe mischten sich mit dem infernalischen Gestank von Mist, Pferdeäpfeln und Urin, der wiederum Abermillionen Fliegen anzog.
Zunehmend wurden Arbeitstiere ausserhalb der Landwirtschaft von der bürgerlichen Gesellschaft der Belle Époque als Ärgernis und als nicht mehr zeitgemäss wahrgenommen. Nach und nach verschwanden sie aus dem Stadtbild, nur die Brauereien kreuzten noch lange mit stattlichen, vierspännigen Fuhrwerken, beladen mit Bierfässern und Eisklötzen, vor den Wirtshäusern auf.
Doch erstaunlicherweise erreichte die Zahl arbeitender Pferde und Rinder landesweit erst in der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkriegs ihren Höhepunkt – also fast 100 Jahre nach dem Eisenbahnbau und lange nach dem Aufkommen der ersten Automobile.
Arbeitstiere waren keine Relikte aus archaischen Zeiten, sondern «Motor» für die Industrialisierung und Modernisierung, wie der Zürcher Historiker Hans-Ulrich Schiedt in seiner umfassenden Pionierstudie «Auf den Spuren der Arbeitstiere» zeigt. Schiedt folgt den Tieren über soziale, agrarische, wirtschaftliche und kulturelle Pfade in der Schweiz vom 18. bis 20. Jahrhundert und deckt eine immense Vielfalt an Themen auf. Von ihrer Rolle in der Stadtlogistik bis hin zu den ethischen Fragen der Mensch-Tier-Beziehung legt er tiefgreifend dar, wie sehr arbeitende Tiere das Leben und Denken nicht nur ihrer Besitzer, sondern der gesamten Gesellschaft prägten.
Während Tiere heute meist als emotionale Begleiter gelten, erinnern die zahlreichen Bilder im Buch daran, dass sie einst unverzichtbare Partner beim Aufbau der modernen Welt waren. Eine Welt, in der Menschen und Tiere eng verbunden waren und mehr voneinander wussten als heute.
Hans-Ulrich Schiedt: «Auf den Spuren der Arbeitstiere – Eine gemeinsame Geschichte vom ausgehenden 18. bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts», Chronos Verlag, Juni 2024
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