Beim Griff in Kasse gefilmt
Sie stahl monatelang Geld aus den Kassen ihres Arbeitgebers, bis eine Kamera sie überführte. Doch im Prozess stellt sich die Frage: War die Überwachung legal? - Von Isabella Seemann
Eine Kioskverkäuferin zweigte mehr als 10 000 Franken von der Ladenkasse ins eigene Portemonnaie ab. Symbolbild: PD
Sie stahl monatelang Geld aus den Kassen ihres Arbeitgebers, bis eine Kamera sie überführte. Doch im Prozess stellt sich die Frage: War die Überwachung legal? - Von Isabella Seemann
Mit schneeweissem Hosenanzug, goldenen Ballerinas und unbewegter Miene betritt die junge Frau den Saal des Obergerichts, dicht gefolgt von ihrem Pflichtverteidiger. Sie nimmt von zwei Rechten Gebrauch, die jedem Angeklagten zustehen: das vorinstanzliche Urteil anzufechten – und zu schweigen. Nur kurz und knapp beantwortet sie die Fragen zur Person: Gordana*, 29 Jahre alt, Detailhandelsassistentin, wohnhaft bei den Eltern, arbeitslos. Ihre Zukunftspläne? Eine Ausbildung im IT-Bereich, Heirat, Familie. Während der restlichen Verhandlung verlässt kein einziges Wort ihre geschminkten Lippen.
Das Schweigen darf der Angeklagten nicht zum Nachteil gereichen. Man darf also unbeteiligt dasitzen und, wenn man möchte, seine Fingernägel betrachten. Doch ist konsequentes Schweigen im Gerichtssaal eher selten. Viele Angeklagte verspüren das dringende Bedürfnis, sich zu äussern. Gerade vor dem Obergericht, wo es oft um die Korrektur eines vermeintlich ungerechten Urteils geht. Manche verfassen sogar Briefe, die sie voller Inbrunst vortragen, andere halten flammende Reden, die selbst Fidel Castro in den Schatten stellen würden. Nicht so Gordana. Ihr Verteidiger spricht für sie. Im Namen seiner Mandantin fordert er die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und einen Freispruch.
Das Bezirksgericht Zürich hatte Gordana wegen gewerbsmässigen Diebstahls verurteilt. Als Verkäuferin in zwei Filialen des Kiosk- und «Convenience Store»-Betreibers Valora im Hauptbahnhof habe sie über vier Monate hinweg nahezu täglich Geld aus den Ladenkassen entnommen und in ihre eigene Tasche gesteckt. Dabei soll sie eine Reihe raffinierter Tricks angewendet haben: Statt die Ware korrekt zu scannen und zu verbuchen, führte sie eine einfache Preisabfrage durch. Bei mindestens 3500 Transaktionen nahm sie das Bargeld der Kunden entgegen, deponierte es zunächst in der Kasse und stornierte die Preisabfrage. Bei der täglichen Kassenabrechnung nahm sie die überschüssigen Beträge an sich. An manchen Tagen steckte sie über 400 Franken, innerhalb von vier Monaten mindestens 10 000 Franken in ihr eigenes Portemonnaie. Bei weiteren rund 2000 solcher Preisabfragen bezahlten die Kunden per Kreditkarte, womit es beim versuchten Diebstahl blieb. Aber das war noch nicht alles: Ware ohne Strichcode ging am System vorbei; das eingenommene Bargeld sackte sie ein. Gordana stahl mit hoher Kadenz, trotz Lohn – somit schuf sie sich eine regelmässige, illegale Einnahmequelle zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts, weshalb das Bezirksgericht dies als gewerbsmässigen Diebstahl wertete. Überführt wurde sie durch eine Überwachungskamera, die ihr Arbeitgeber installiert hatte. Auf den Aufnahmen sei zu sehen, wie sie Geld aus der Kasse nimmt und in den Ärmel ihres Pullovers steckt.
Hier setzt die Verteidigungsstrategie an. Der Schuldnachweis gegen seine Mandantin sei nicht erbracht worden, da die Beweise nicht verwertbar seien, argumentiert der Pflichtverteidiger. «Die Schnüffelei» der Arbeitgeberin sei rechtswidrig. «Die Arbeitnehmerin wurde unzulässigerweise rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, per Kamera überwacht», führt er aus. Der Shop habe verdachtslos über Jahre hinweg flächendeckend Kameras eingesetzt. «Meine Mandantin wurde nie auf die Kameras hingewiesen, noch hat sie jemals in die Aufzeichnungen eingewilligt», betont der Verteidiger mit Nachdruck. Der Goldküsten-Anwalt lenkt den Fall von Diebstahl zu den Arbeitnehmerrechten und den Grenzen der Überwachung am Arbeitsplatz und schlägt klassenkämpferische Töne an. Für einen Milliardenkonzern könne eine unbestätigte Inventardifferenz von einigen tausend Franken keinen ausreichenden Tatverdacht darstellen, um eine unverhältnismässige verdeckte Videoüberwachung einer Kioskverkäuferin zu rechtfertigen. Solche illegal beschafften Beweismittel, fügt er hinzu, dürften in einem Strafverfahren nicht verwendet werden. «Die Verfolgung betriebsinterner Straftaten», schliesst er, «ist allein Sache der Polizei.» Der Anwalt der Gegenseite fordert hingegen, das erstinstanzliche Urteil zu bestätigen. Die Überwachung sei nicht nur zulässig, sondern notwendig gewesen. «Der Kollege versucht lediglich, Verwirrung zu stiften», entgegnet er.
Gordana lässt das Schlusswort ungesagt. Das Urteil des Bezirksgerichts wird vollumfänglich bestätigt. Die Voraussetzungen für die Videoüberwachung seien erfüllt gewesen, betont der Vorsitzende Richter. Die Kamera habe sich ausschliesslich auf die Kasse gerichtet, die Persönlichkeitsrechte der Angestellten seien nicht verletzt worden. Man sehe auf den Aufnahmen, wie die Angeklagte mit hoher krimineller Energie und Unverfrorenheit delinquiere. Ohne Not und aus reiner Gier. «Richtig dreist.» Gordana nimmt das Urteil und die Begründung reglos hin – als ginge sie das alles nichts an.
* Persönliche Angaben geändert
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