Corine Mauch ist seit 2009 Stadtpräsidentin von Zürich. Bild: Christian Lanz
24.12.2024 10:04
Zürich als Labor für nationale Lösungen
Im traditionellen «Jahresinterview» zieht Stadtpräsidentin Corine Mauch Bilanz über ein anspruchsvolles Jahr. Themen wie der Mangel an bezahlbarem Wohnraum, die gerechte Nutzung des begrenzten öffentlichen Raums und die Sicherstellung der öffentlichen Sicherheit angesichts globaler Unruhen zählten zu den grossen Herausforderungen, mit denen sich der Stadtrat auseinandersetzte. - Von Jan Strobel und Christian Saggese
Das Jahr 2024 endet für die 105 Mietparteien in den sogenannten «Sugus-Häusern» mit einem Knall. Es gab eine Massenkündigung. Sie haben daraufhin angekündigt, dass der Stadtrat das Gespräch mit der Eigentümerin sucht und allenfalls in Betracht zieht, die Gebäude zu kaufen. Können Sie diese Pläne konkretisieren?
Corine Mauch: Zuerst muss gesagt werden: Zürich darf keine Stadt nur für Reiche sein. Unser Ziel sind vielfältige Quartiere, in welchen auch Personen mit tieferen Einkommen bezahlbaren Wohnraum finden. Diese Durchmischung ist wichtig für die Lebensqualität. Hierfür verfolgen wir eine aktive Wohnpolitik mit dem Ziel, dass der Anteil gemeinnütziger Mietwohnungen bis 2050 ein Drittel beträgt. Dafür stehen uns verschiedene Instrumente zur Verfügung, wie Baurechtsvergaben an Genossenschaften oder an unsere eigenen kommunalen Stiftungen, die beispielsweise den Fokus auf Alterswohnungen oder Wohnraum für grosse Familien legen. Zudem investieren wir stark in den Kauf von Liegenschaften. Das Stadtparlament hat im Budget für das nächste Jahr zu diesem Zweck 600 Millionen eingestellt.
Bei den Sugus-Häusern handelt es sich um private Liegenschaften. Es war der Anspruch ihres Erbauers Leopold Bachmann, dort preiswerte Wohnungen anzubieten. Wir suchen nun mit der heutigen Eigentümerin das Gespräch, um herauszufinden, was ihre aktuellen Überlegungen sind und wie wir seitens Stadt dazu beitragen können, die Situation der Mieterschaft zu verbessern. Wir verfügen über Erfahrung und Wissen in der Frage, wie Sanierungen sozial nachhaltig gestaltet werden können. Ob ein Kauf der Liegenschaften unserer Erwerbs-Strategie entspricht, würden wir bei einem Verkaufsinteresse der Eigentümerin sorgfältig prüfen.
Und haben Sie die Eigentümerin bereits erreicht?
Bisher hat die Eigentümerin leider noch nicht auf unsere Bitte um ein Gespräch reagiert. (Anmerkung der Redaktion: Stand des Interviews ist der 20. Dezember)
An der vergangenen Budgetdebatte im Gemeinderat rechnete die FDP vor: Mit den nun bereitgestellten 600 Millionen Franken für Liegenschaftenkäufe könne die Stadt etwa 300 Wohnungen kaufen für ungefähr 1000 Personen. Das seien lediglich 0,2 Prozent der Stadtzürcher Bevölkerung. Wie widerlegen Sie dieses Argument?
Diese Argumentation ist natürlich viel zu einfach. Sinnvolle Investitionen in preisgünstigen Wohnraum lohnen sich immer. Und sie lohnen sich vor allem über mehrere Generationen hinweg! Die weitsichtige Politik unserer Vorgängerinnen und Vorgänger, von der wir heute mit einem im schweizweiten Vergleich sehr hohen Anteil gemeinnütziger Wohnungen profitieren, ist Beleg dafür.
Tatsächlich sieht der aktuelle Stand zur Erreichung des Drittelsziels nicht gerade ermutigend aus. Mitte Jahr sagten sie in einem Interview mit der «NZZ», dass es schneller vorangehen müsse. Wie will die Stadt das bewerkstelligen?
Bis 2050 ist es noch ein langer Zeitraum. Doch das Erreichen des Drittelsziels bringt tatsächlich Herausforderungen mit sich. Da es sich um einen Prozentanteil handelt, steigt unser Zielwert durch die sehr dynamische Bautätigkeit im nicht-gemeinnützigen Bereich stetig an. Um das Drittelsziel zu erreichen, sind vielfältige Massnahmen nötig. Wir sind dabei auch auf Kanton und Bund angewiesen, um neue Handlungsmöglichkeiten zu erhalten. Ein Beispiel ist die eingereichte kantonale Initiative für ein Vorkaufsrecht für Gemeinden und Städte, die der Stadtrat unterstützt.
Die Aufstockungsinitiative hat der Stadtrat allerdings für ungültig erklärt. Das Initiativkomitee argumentiert, damit könnten bis zu 10 000 zusätzliche Wohnungen entstehen. Warum stellte sich der Stadtrat hier quer?
Die Initiative ist aus rechtlichen Gründen ungültig. Sie verstösst gegen übergeordnetes Recht auf Bundes- und Kantonsebene.
Sie haben die Zusammenarbeit mit Kanton und Bund angesprochen. Diese ist derzeit belastet. Seien es die Spur-Abbaupläne auf der Bellerivestrasse, die Einführung eines Mindestlohns oder die Wirtschaftliche Basishilfe für Sans-Papiers: Es sind alles Projekte, die gegen übergeordnetes Recht verstossen sollen. Warum investiert die Stadt personelle und finanzielle Ressourcen in solche Projekte, die vermutlich sowieso nie umgesetzt werden können?
In unserem föderalistischen System ist der kommunale Spielraum begrenzt – doch den Spielraum, den wir haben, wollen wir nutzen! Nicht nur, weil wir in Zürich eine solidarische Gesellschaft anstreben, in der unter anderem jede Einwohnerin und jeder Einwohner einen anständigen Lohn zum Leben hat. Armut ist ein grosses Problem! Sondern auch ganz grundsätzlich. Denn Städte sind oft «Labore» für neue Lösungen zu drängenden gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen. Solche manifestieren sich weltweit zuerst in den Städten. Wie etwa bei der Wohnpolitik. Das Thema mangelnder bezahlbarer Wohnraum ist mittlerweile schon längst kein städtisches Problem mehr, sondern auch in der Agglomeration oder in touristischen Gebieten angekommen. Eine klassische Zürcher Erfolgsgeschichte einer solchen «Laborsituation» war beispielsweise der Umgang mit der Drogenproblematik damals beim Platzspitz und am Letten. Wir hatten ein reales gesamtgesellschaftliches Problem, und wir wollten und mussten Lösungen finden, um die Situation in den Griff zu bekommen. Beispielsweise durch die kontrollierte Spritzen- und Heroinabgabe sind meine Vorgängerinnen und Vorgänger ebenfalls oft an die Grenze gegangen und nahmen dafür Konflikte mit übergeordneten Vorgaben in Kauf. Daraus resultierte aber letztlich die erfolgreiche Vier-Säulen-Politik, die heute schweizweit als Erfolgsmodell gesehen und nationale Drogenpolitik geworden ist.
Aber verpufft mit solchen Konflikten nicht der Wille der Stimmberechtigten? Sie stimmen ja nicht über Laborversuche ab, sondern über ganz konkrete Vorlagen.
Das ist richtig. Und sie stehen – so unsere Erfahrung – hinter diesen konkreten Vorlagen! Ich bin überzeugt, dass ein Grossteil der Stimmberechtigten diese «Laborfunktion» der Städte schätzt und stützt.
Zieht der Stadtrat den abschätzigen Mindestlohn-Entscheid des Verwaltungsgerichts ans Bundesgericht weiter, wie dies die SP fordert?
Ja. Das Stadtparlament hat am letzten Mittwoch entschieden, dass es diesen Entscheid weiterziehen will.
Für hitzige Diskussionen sorgt die neue Parkkartenverordnung. Sie sieht unter anderem vor, dass nur noch diejenigen die blaue Zone nutzen dürfen, die über keinen privaten Parkplatz verfügen können. Viele ältere Liegenschaften haben aber gar keine Parkplätze. Was sagen Sie jemandem, der auf ein Auto angewiesen ist, sich aber einen privaten Parkplatz nicht leisten kann?
Der öffentliche Raum ist öffentlich, er soll also möglichst allen zugutekommen. Doch der Platz ist begrenzt. Wir brauchen zum Beispiel Raum, um für die Hitzeminderung Bäume zu pflanzen. Gleichzeitig verlangt die Bevölkerung qualitativ hochwertigen Aufenthaltsraum. Unsere Abwägung hat gezeigt, dass Parkplätze im öffentlichen Raum unverhältnismässig viel Raum beanspruchen, gerade auch mit Blick darauf, dass noch weniger als die Hälfte der Zürcher Haushalte ein Auto besitzt. Private Fahrzeuge sollten daher bevorzugt im privaten Bereich wie in Tiefgaragen untergebracht werden. Es ist nicht in Ordnung, dass diese oft leer stehen, während günstige Parkmöglichkeiten in der blauen Zone genutzt werden. Angesichts der ohnehin hohen Kosten für Benzin, Unterhalt oder Versicherung eines Autos macht eine Parkplatzmiete zudem einen eher kleinen Teil aus. Wo es aber besondere Fälle gibt, etwa in der Altstadt oder bei Liegenschaften aus der vorletzten Jahrhundertwende mit begrenzten Parkmöglichkeiten, berücksichtigen wir diese Gegebenheiten bei der Entscheidung zur Parkplatzaufhebung durchaus.
Für Autofahrer wird es teuer, während Millionen in die Veloinfrastruktur fliessen, wie in den Stadttunnel oder in die Velovorzugsrouten. Jetzt wird von manchen Seiten die Einführung einer «Velosteuer» verlangt, damit sich die Velofahrenden an diesen Projekten nicht nur durch die allgemeinen Steuern beteiligen. Wie stehen Sie dazu?
Die Stimmberechtigten haben in Abstimmungen mehrfach klargemacht, dass sie sich eine sicherere Veloinfrastruktur wünschen. Zudem haben sie das Netto-Null-Ziel unterstützt, für dessen Erreichung die klimaschonenden Velos wichtig sind. Unser Ansatz ist es, Anreize zu schaffen, um den Umstieg aufs Velo zu fördern. Im Autobereich gibt es ähnliche Anreize. So sind Elektrofahrzeuge im Kanton Zürich von Verkehrsabgaben befreit. Eine Velosteuer hingegen würde genau das Gegenteil bewirken. Ziel ist es, dass Menschen wo möglich das Velo und den ÖV nutzen – mit dem zusätzlichen Vorteil, dass Gewerbetreibende, die auf ein Auto angewiesen sind, schneller vorankommen und mehr Platz haben.
Sie haben die Elektromobilität angesprochen. Hier geht es in der Stadt Zürich eher schleppend voran. Auch der Gemeinderat wartet immer noch auf eine ausgefeilte Elektromobilitätsstrategie. Weshalb wird hier nicht etwas mehr aufs Tempo gedrückt?
Die Arbeiten beim Tiefbauamt sind fortgeschritten. Es braucht aber Zeit, um die Strategie fundiert, praxistauglich und unter Einbezug der beteiligten Dienstabteilungen erarbeiten zu können. Im Rahmen unserer Strategie «Stadtraum und Mobilität 2040» spielt die Förderung der Elektromobilität eine wichtige Rolle. Wir setzen auf eine nachhaltige und klimafreundliche Mobilität, bei der der motorisierte Individualverkehr reduziert und der verbleibende Verkehr emissionsfrei, lärmarm und effizient abgewickelt wird.
Thema Sicherheit: Laut der städtischen Sicherheitsbefragung 2024 fühlen sich tagsüber 99 Prozent der Zürcherinnen und Zürcher sicher, nachts noch 80 Prozent. Welche Strategie verfolgt die Stadt, um dieses hohe Sicherheitsgefühl zu bewahren?
Die Stadtpolizei steht unter enormem Druck, noch immer werden dringend nötige Frontstellen nur zögerlich ausgebaut. Das Sicherheitsgefühl ist enorm wichtig für eine hohe Lebensqualität der Menschen. Das muss gepflegt und bewahrt bleiben. Seit der Corona-Pandemie und angesichts der aktuellen Weltlage mit den Kriegen und Krisen haben Demonstrationen stark zugenommen. Diese Entwicklung stellt uns vor grosse Herausforderungen, weshalb wir zusätzliche Stellen beantragt und Massnahmen ergriffen haben. So wurden beispielsweise die Öffnungszeiten der Polizeiwachen an Wochenenden reduziert, um mehr Einsätze auf der Strasse zu ermöglichen, da Präsenz für das Sicherheitsgefühl entscheidend ist. Zudem hat das Sicherheitsdepartement ein neues Arbeitszeitmodell entwickelt, das ermöglicht, ab nächstem Jahr mehr Polizistinnen und Polizisten für Wochenenddienste einzusetzen, wenn der Bedarf am höchsten ist.
Negative Schlagzeilen machten jüngst auch die Ausschreitungen zwischen GC- und den FCZ-Fans. Ganze Stadtquartiere im Kreis 9 leiden massiv unter der wiederkehrenden Fangewalt. Was fordert die Stadt von den Fussballvereinen? Und weshalb werden Sie nicht noch stärker unter politischem Druck zur Kasse gebeten?
Die Rivalität zwischen den Fussballfans und die damit verbundene Gewalt bereiten dem Stadtrat grosse Sorgen. Die Sicherheitsvorsteherin trifft sich regelmässig mit den Clubs und arbeitet mit ihnen aktuell an einer Sensibilisierungs-Kampagne gegen die Fanrivalität. Eine weitere Massnahme ist, dass wir mehr Geld in die Fansozialarbeit investieren wollen.
Dieses Jahr gab es auch mehrere Angriffe auf jüdische Zürcherinnen und Zürcher, sowie Attacken auf Personen der Queer-Community. Wie stehen Sie zur Aussage, dass es einen Zusammenhang zwischen Migration und Antisemitismus oder Queerfeindlichkeit gebe?
Antisemitismus darf es nicht geben. Er ist leider ein jahrhundertealtes, globales Übel. Es ist zu einfach, das auf die Migration zurückführen zu wollen. Auch ein Blick in die Zürcher Geschichte zeigt, dass im Mittelalter die jüdische Gemeinschaft vertrieben oder getötet wurde. Antisemitismus begleitet die jüdische Bevölkerung also seit jeher. Aber es hat mich erschreckt, wie stark diese Vorurteile durch den Krieg im Nahen Osten erneut sichtbar wurden. Gesellschaftliche Entwicklungen wie Radikalisierung und Extremismus zu bekämpfen ist für uns von enormer Bedeutung. Vor diesem Hintergrund hat das Sicherheitsdepartement bei der ZHAW eine Studie in Auftrag gegeben, die auch Rechtsextremismus untersucht und Massnahmen vorschlägt. Um sexuelle, sexistische sowie homo- und transfeindliche Belästigungen zu bekämpfen, haben wir mit «Zürich schaut hin» ein niederschwelliges Meldetool geschaffen, da viele Betroffene aus Scham nicht direkt zur Polizei gehen, obwohl sie dies tun sollten. Schulungen und Weiterbildungen helfen uns, diese Themen laufend aufzuarbeiten. Zudem handeln wir gezielt gegen Täterschaften: So wurden sechs Mitglieder der Jungen Tat festgenommen, nachdem sie homofeindliche Flyer bei der Pride verteilt hatten. Es ist aber auch unser Anspruch, dass Menschen, die aus kulturell patriarchalen Strukturen kommen, unsere Werte, Gesetze und Grundsätze respektieren. Es ist jedoch viel zu einfach, Migration allein als Sündenbock für unsere heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen zu benennen.
Wie passt es da zusammen, dass kulturelle und politische Veranstaltungen mit antisemitischen Botschaften wie etwa in der Zentralwäscherei geduldet wurden? Der Veranstaltungsort gehört immerhin der Stadt Zürich.
Für den Stadtrat ist klar, dass an Veranstaltungen keine antisemitischen oder anderen diskriminierenden Äusserungen gemacht werden dürfen. Die Anforderungen an einen Eingriff in die Meinungs- und Informationsfreiheit sind wegen der besonderen Bedeutung des Grundrechts für eine demokratische Gesellschaft allerdings hoch. Wo die Stadt Räumlichkeiten vermietet, verlangt sie von den Veranstaltenden Massnahmen, um diskriminierende Äusserungen zu verhindern.
Die Stadt erarbeitet derzeit eine «Strategie Erinnerungskultur». Was bedeuten diese Ihnen persönlich im Kontext der nicht enden wollenden Bührle-Debatte? Und was sieht diese Strategie genau vor?
Diese Strategie ist in Erarbeitung und soll Ende 2025 fertig sein. Wir haben von Seiten Bevölkerung wie auch von der Politik festgestellt, dass das gesellschaftliche Interesse daran, sich an geschichtliche Ereignisse zu erinnern, stark zugenommen hat. Die Bührle-Debatte hat ein Schlaglicht auf das Thema geworfen. Doch es geht auch um anderes. Manche wollen, dass an die Drogengeschichte Zürichs erinnert wird, andere verlangten eine Plakette für den verstorbenen Köbi Kuhn. Auch Katharina von Zimmern, die gerade im Rahmen des 500-Jahr-Jubiläums in Zürich in den Fokus rückte, ist immer wieder ein Thema und ein gutes Beispiel dafür, dass an gewisse Dinge im öffentlichen Raum erinnert wird – und an andere nicht. Die Strategie soll dem Stadtrat und der Verwaltung Orientierung bieten, wie wir als Stadt mit solchen Anliegen umgehen können und welche Rolle wir dabei spielen.
Ein Schwerpunkt im Kulturleitbild 2024 bis 2027 ist die Bereitstellung bezahlbarer Räume für Kultur im Zentrum und in der Peripherie. Welche Projekte wurden bereits angestossen oder sind angedacht?
In den letzten Monaten haben wir 47 zusätzliche Arbeitsräume bereitgestellt, teils durch temporäre Zwischennutzungen. Auf dem MFO-Areal in Oerlikon prüfen wir aktuell den Bau eines Hauses für Kultur und Kreislaufwirtschaft, das beide Themen verbindet und Räume für das Gewerbe und kulturelle Nutzungen bietet. Unsere Atelierpolitik haben wir ebenfalls angepasst: In der Roten Fabrik wurden Fristen eingeführt, damit bezahlbare Räume nicht dauerhaft besetzt bleiben und junge Kulturschaffende eine Chance erhalten. Wir fördern zudem aktiv das Netzwerk zwischen etablierten Institutionen und neuen Akteurinnen und Akteuren der freien Szene sowie kleineren Organisationen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Förderung von Diversität, um unsere reale Gesellschaft auch in der Kultur abzubilden. Hier besteht noch Handlungsbedarf.
Hohe Wellen schlug die beabsichtigte Abschaffung der Entsorgungscoupons. Nun hat sich der Gemeinderat erneut klar gegen diese Abschaffung ausgesprochen. Die Coupons scheinen damit gerettet. Was ist die Sicht der Stadt auf diesen Entscheid?
Ich verstehe, dass es unsympathisch wirkt, wenn einem etwas vermeintlich Kostenloses weggenommen wird. Aber die Coupons waren in dieser Hinsicht eine Mogelpackung. Denn dafür bezahlt haben wir alle über unsere Gebühren. Unsere Klimaziele fordern von uns eine neue Denkweise. Bevor wir etwas entsorgen, sollten wir uns fragen: Kann ich das reparieren lassen? Kann jemand anderes das gebrauchen? Aber natürlich kann man in der Stadt weiterhin entsorgen, und zwar günstig und teilweise sogar gratis.
Die Stadt engagiert sich auch im Ausland: Für Empörung sorgte die städtische Unterstützung des palästinischen Hilfwerks UNRWA mit 380 000 Franken. Es kam zu einer Beschwerde beim Regierungsrat. Wieso entschlossen sie sich zu dieser Zahlung, obwohl selbst eine UN-interne Untersuchung zum Schluss kam, dass neun Mitarbeiter des Hiflswerks mutmasslich in das Massaker vom 7. Oktober aktiv involviert gewesen sein könnten?
Der Auslöser war die schreckliche humanitäre Katastrophe im Gazastreifen. Zürich hat eine lange Tradition in der humanitären Hilfe, und es war uns ein grosses Anliegen, das Leid vor Ort zu lindern, auch auf Anregung eines Postulats. Nach sorgfältiger Prüfung stellte sich heraus, dass die UNRWA das Rückgrat der humanitären Hilfe im Gazastreifen bildet. NGOs, die dort tätig sind, nutzen deren Logistik und Infrastruktur, um ihre Hilfe zu leisten – eine Tatsache, die von verschiedenen Fachleuten bestätigt wurde. Wenn Hilfe bei der notleidenden Bevölkerung ankommen soll, führt aktuell kein Weg an der UNRWA vorbei. Auch der Bundesrat steht hinter dem Hilfswerk. Aussenminister Ignazio Cassis fand vor der UNO-Vollversammlung klare Worte, als Israel beschlossen hatte, die UNRWA faktisch zu verbieten. Aber es stimmt: Die Reaktionen waren gemischt, teils harsch, doch ich selbst habe noch nie so viele positive Rückmeldungen auf eine beschlossene humanitäre Unterstützung des Stadtrats erhalten – insbesondere auch von jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern.
Die Stadt unterstützt seit August Medico International mit 100 000 Franken in der nordsyrischen Region Al Shahba. Anfang Dezember erreichten die islamistischen Milizen auch diese Region und damit die Flüchtlingscamps. Wie verfolgt der Stadtrat die Ereignisse in Syrien, und besteht Kontakt zu Medico International?
Medico International informierte uns umgehend über die Situation, wir sind im Austausch. Das von uns mitfinanzierte Projekt endet jetzt im Dezember – der Bedarf an humanitärer Hilfe in der Region wird aber weiterhin gross sein.
Zum Sport: Nächstes Jahr findet die Frauen-Fussball-EM auch in Zürich statt. Gibt es in diesem Zuge Pläne, um den Frauensport nachhaltig zu fördern, beispielsweise durch mehr Angebote für Mädchen und Frauen?
Ja, es werden auf nationaler, regionaler und städtischer Ebene Begleitmassnahmen zur Förderung von Frauen- und Mädchen im Fussball – und im Sport insgesamt – umgesetzt. In der Stadt haben wir beispielsweise auf das laufende Schuljahr hin den das Projekt «ZüriKick» lanciert, das Mädchen zwischen 10 und 15 Jahren kostenlose Fussball-Kurse ermöglicht.
Generell gefragt: Was waren Ihre persönlichen politischen Höhenpunkte, was Ihre Tiefpunkte im Jahr 2024?
Grundsätzlich freute ich mich über das erneute grosse Vertrauen in den Stadtrat: Die Stimmberechtigten sind bei den 19 städtischen Vorlagen an der Urne unseren Empfehlungen gefolgt. Ein besonders berührender Moment war für mich das Treffen mit Holocaust-Überlebenden im September dieses Jahres.
Tiefpunkte gab es auch 2024. Allem voran denke ich an die anhaltenden Kriege an so vielen Orten auf der Welt. Im Nahen Osten sind die israelischen Geiseln noch immer nicht frei und die humanitäre Lage im Gazastreifen ist katastrophal. Und auch in der Ukraine geht das Leid weiter.
Im März 2026 sind Neuwahlen. Werden Sie sich nochmals vier Jahre als Stadtpräsidentin zur Verfügung stellen?
Das Amt macht mich sehr viel Freude und ich setze mich weiterhin sehr motiviert für die Zürcherinnen und Zürcher ein. Zur Frage, ob ich 2026 wieder antrete, äussere ich mich nächstes Jahr.
Heute ist Heiligabend. Was ist Ihre Weihnachtsbotschaft an die Bevölkerung?
Ich wünsche allen Zürcherinnen und Zürchern kraftspendende Momente, die uns in diesen Zeiten grausamer Kriege daran erinnern, dass Hoffnung und Menschlichkeit die wahren starken Kräfte sind.