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Gut zu wissen

Nachschub für die RAF? Im April 1972 hob die Polizei in einer Wohnung im 3. Stock an der Bändlistrasse 73 ein Waffenarsenal aus. Bild: PD

Die Guerilla von der Grünau

Von: Isabella Seemann

17. Mai 2022

GUT ZU WISSEN Vor 50 Jahren flog die «Bändlistrasse» auf, eine Kommune von «Anarchisten» in Altstetten, die zum bewaffneten Kampf gegen das herrschende Establishment rüstete.

Sein schlechter Trip macht weltweit Schlagzeilen: Am Morgen des 25. April 1972 springt der 19-jährige Werner Meier im LSD-Rausch nackt durch das doppelverglaste Fenster und die Jalousie einer im 3. Stock gelegenen Wohnung an der Bändlistrasse 73 im Altstetter Grünau-Quartier. Bewusstlos bleibt er bäuchlings auf dem Rasen vor dem Wohnblock liegen. Die Sanität bringt ihn ins Triemli-Spital zur Pflege.

Als ein Grossaufgebot der Polizei eintrifft, haben seine Mitbewohner längst das Weite gesucht. Die Zweizimmerwohnung diente als Treffpunkt und Unterschlupf von gut einem Dutzend junger Leute im Alter von 17 bis 27 Jahren, vorwiegend Halbstarke, Kleinkriminelle und Drogensüchtige mit Heimkarrieren.

«Kochbuch» für Drogen

Bei der Hausdurchsuchung findet die Polizei Pistolen, Magazine, Funkgeräte und Einbruchswerkzeug – und so genannte Dumdum-Geschosse: Pistolenpatronen mit aufgefeilten Ummantelungen an der Spitze, damit sie beim Eintritt in den Körper aufplatzen und möglichst schwere Verletzungen zufügen. Zudem entdeckt sie ein Exemplar des «Anarchist Cookbook», das Anleitungen enthält, wie man Sprengstoff und Drogen herstellt. Die Bewohner hatten die Rezepte offensichtlich ausprobiert: Neben zahlreichen Gläsern, wie sie in chemischen Labors verwendet werden, befindet sich in einem der Zimmer eine Destillationsanlage. Rückstände von Chemikalien werden später darin nachgewiesen, die auf die Herstellung von Sprengstoff deuten. Zudem entdeckt sie handschriftliche Notizen mit dem Titel «Guerilla in der Schweiz». Kurzum: Für die Polizei steht fest, dass an der Bändlistrasse 73 Leute hausen, die «anarchistisch tätig waren». Die Bewohner stellten eine Gefahr für die Gesellschaft dar, heisst es im Bericht der Stadtpolizei Zürich.

Die Befürchtungen der Polizei sind nicht unbegründet: An einer Wand der Wohnung ist mit roter Farbe ein Stern und die Buchstaben RAF, das Kürzel der Roten Armee Fraktion, angemalt. Also jener terroristischen Vereinigung, die seit 1970 mit Sprengstoffanschlägen, Entführungen und bewaffneten Aktionen Deutschland in Atem hält. Am 25. April 1972 deutet alles darauf hin, dass in Zürich ein Ableger der deutschen RAF auffliegt. Die Nachricht geht um die Welt.

Im Vergleich zur Fülle der Publikationen zum Linksterrorismus in Deutschland ist über jene radikalisierten Schweizer 68er, die Gewalt als Mittel zur gesellschaftlichen Veränderung erwog, erstaunlich wenig bekannt. Tamedia-Kulturjournalist Andreas Tobler wollte wissen, wie weit die Stadtguerillas gegangen wären zur Erreichung ihrer Ziele, warum sie lange über ihr Scheitern hinaus eine morbide Faszination entfalten – und weshalb bis heute beharrlich über die Gewaltfrage geschwiegen wird.

Seine Erkenntnisse, die er durch Gespräche mit allen noch lebenden Gruppenmitgliedern und der Durchsicht Tausender Aktenseiten erlangte, bündelte er in seinem kürzlich beim Echtzeit Verlag erschienenen Buch «Bändlistrasse – LSD, RAF, PKO und TNT». Dabei schaut er auch hinter die politisch aufgeheizten Momente in den Siebziger Jahren, widerlegt Fehleinschätzungen und ermöglicht einen sachlichen, differenzierten Blick auf die Akteure sowie auf die Entwicklungsdynamiken.

Tatsächlich hatte die Zürcher Linke im Frühling 1972 bereits seit mehreren Jahren Kontakte zur RAF: Wie Autor Andreas Tober in seinem Buch erstmals aufzeigt, diskutierten einige ihrer Exponenten bei Besuchen in Stuttgart darüber, ob zwei Bändlistrasse-Mitglieder bei der RAF einsteigen sollten – und dies nur wenige Tage vor der so genannten Mai-Offensive der deutschen Terroristen um Andreas Baader und Gudrun Ensslin, jener Reihe von Sprengstoffanschlägen, die mehreren Menschen das Leben kostete. Einer von ihnen ist dann sogar in Stuttgart zu Gast: Eine Nacht lang diskutiert er mit Baader über die Frage, wie die Bomben am besten gezündet werden könnten. Mobilisiert durch den Zürcher Fenstersturz, zerschlägt die Polizei im Rahmen der «Aktion K» innert Kürze den radikalen Kern der Zürcher Linken und kappt so die Kontakte zur RAF vor deren Bombenattentaten.

Andreas Tobler: «Bändlistrasse – LSD, RAF, PKO und TNT», Echtzeit Verlag, April 2022, www.echtzeit.ch

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