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Gut zu wissen

Im Garten des Knabenheims Selnau an der Selnaustrasse 9 fühlten sich manche Zöglinge, nach eigener Aussage, «zur Schau gestellt». Bild: JS

Ein halbes Jahr in der Einzelzelle

Von: Jan Strobel

31. März 2016

Knabenheim Selnau: Mitten in Zürich darbten Jugendliche in desolaten Zuständen

«Ein Kind», schrieb einst der Dichter Novalis, «ist eine sichtbar gewordene Liebe.» Für Ferdinand H. allerdings, geboren 1914 als Sohn eines Tramführers, hatte es diese Liebe nie gegeben. Sie war lediglich ein flüchtiger Traum. Denn Ferdinand H. darbte in einer verrotteten Einzelzelle des Knabenheims Selnau, ein halbes Jahr lang blieb er weggesperrt aus einer Gesellschaft, die für Knaben wie ihn kein Pardon kannte. Sein Vater und die Stiefmutter waren unfähig gewesen, die Erziehung des Buben in die Hand zu nehmen. Ferdinand wurde fremdplatziert, geriet aber schnell auf die schiefe Bahn, machte Schulden und verdingte sich als Handlanger. Zudem wurde der Jugendliche auch des Öfteren in Männerbegleitung gesichtet. In Basel griff ihn die Polizei schliesslich auf und verbrachte ihn, den «Strichjungen», zurück nach Zürich, ins berüchtigte Knabenheim an der Selnaustrasse 9. 

Berichte anderer Jugendlicher über ihre Zeit «im Selnau» decken sich mit den Erfahrungen von Ferdinand H. «Ich wurde drei Wochen lang in einem schmalen Zimmer eingesperrt. Das Bett wurde hinaufgeklappt. So musste ich den ganzen Tag hin- und herspazieren», gab ein Junge zu Protokoll. Sein Vergehen: er war ein Fahrender.

1916 war das Knabenheim Selnau als «Heim für schwererziehbare Jugendliche» vom Zürcher Fürsorgeamt eingerichtet worden. Es ging dabei weniger um Resozialisierung, als vor allem um «Arreststrafen für Jugendliche», die sich nicht an die «Regeln» hielten, und deshalb «intensiver Aufsicht bedürfen».  Den Eltern, meistens völlig mittellos, wurde ihre elterliche Gewalt entzogen. Wehrten sie sich gegen die Kinderwegnahmen, wurden sie oft selbst in Anstalten eingewiesen. 1949 besuchte ein NZZ-Journalist das Knabenheim Selnau. Das Haus, für 27 Zöglinge ausgerichtet, sei häufig überfüllt. Viele Buben müssten auf den Korridoren schlafen. Manche Zimmer würden mit metallenen Gefängnistüren verriegelt. Waschgelegenheiten gebe es zu wenig. So stehe nur eine Badewanne für alle Insassen zur Verfügung. Das Fazit der NZZ fiel deutlich aus: «Die Verhältnisse im Knabenheim Selnau sind ganz einfach unserer Stadt unwürdig.»

Erst 1957 wurde das Knabenheim Selnau aufgelöst und mit dem Gfellergut in Schwamendingen eine sozialpädagogische Vorzeigeinstitution geschaffen. Heute befindet sich an der Selnaustrasse 9 das Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen der Psychiatrischen Universitätsklinik.

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