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Gut zu wissen

Eine Szene, die der Zürcher Filmzensur zum Opfer fiel: Zwei Frauen küssen sich in «The Alley Cats» 1968. Bild: PD

Ein Kuss wird zur Zumutung

Von: Jan Strobel

17. Dezember 2019

Was das Zürcher Kinopublikum zu sehen bekam und was unter Verschluss gehalten oder geschnitten wurde, das entschied bis 1971 die Zürcher Filmzensurbehörde, die der kantonalen Polizeidirektion unterstellt war. Der Filmwissenschaftler Matthias Uhlmann hat ihre Geschichte aufgearbeitet.

Als sich die Mitglieder der Zürcher Filmzensur im Auftrag der kantonalen Polizeidirektion am 23. März 1968 ins Kino Walche begaben, ahnten sie wohl bereits, dass sie gleichsam den roten Stift zücken mussten. Immerhin zeigte schon das Plakat der US-amerikanischen Tragikomödie «The Alley Cats», in welch moralische Abgründe diese filmische Reise gehen würde. Ein Mann und eine Frau umschlangen sich von ungezügelter Lust getrieben. Die Reklame in dieser Form war bereits der erste Punkt, der verboten wurde.

Und im Film selbst kam es noch schlimmer: Leslie, die Hauptprotagonistin, warf ihren Kopf in einer autoerotischen Szene  vor dem Schlafzimmerspiegel «in sexueller Erregung hin und her, wobei das Filmbild von entsprechender Musik untermalt» wurde, wie es im Bericht der Filmzensur heisst. Später entpuppte sich Leslie auch noch als «Lesbierin», die sich auf ihrem Bett mit Irene «heftig küsst». Die Szenen mussten umgehend gestrichen werden, bevor «The Alley Cats» schliesslich  ab 18 Jahren freigegeben wurde.

Der Reiz des Verbotenen

Zwischen 1911 und 1971 beurteilte die Filmzensur im Kanton Zürich mittels eines klar definierten Regelwerks, was dem Publikum in den Kinosälen vorgeführt werden durfte  oder was einem Teil- oder Totalverbot unterworfen wurde. Der Film galt als potenziell Verderben bringendes Unterhaltungsangebot, welches das moralische Gefüge des «Normal- oder Durchschnittsmenschen» aus dem Lot bringen konn­te.

Der Zürcher Filmwissenschafter Matthias Uhlmann hat die Geschichte, Praxis und Entscheide der Zürcher Filmzensur nun für seine Dissertation akribisch untersucht. Entstanden ist ein einzigartiges Monumentalwerk von über 1000 Seiten, das nicht nur einen Einblick in die Entstehung und die Arbeitsweise der Filmzensur in Zürich gibt, sondern auch die einzelnen betroffenen Filme detailliert untersucht.

Die Filmzensur erzählt so auch die Geschichte Zürichs als Filmstadt – und wie sich der gesellschaftliche Moralkompass über die Jahrzehnte immer wieder neu ausgerichtet hat, auch wenn einige der Filme auch heute für empörte Debatten sorgen würden. Denn natürlich hörte die Geschichte nicht einfach 1971 auf. Das Zürcher Filmgesetz setzte danach den Rahmen des Erlaubten.

Im Fokus der Zensur standen schon seit den frühesten Erlassen Darstellungen, die gegen die «öffentliche Sittlichkeit auf erotisch-sexuellem Gebiet» verstiessen oder strafbare Handlungen darboten bzw. dazu verleiteten. Dabei stellte sich schnell ein für die Zensurbehörde unerwünschter, aber in der Sache angelegter Nebeneffekt ein: Die verbotenen Filme oder solche mit Altersbeschränkung übten besonders auf Jugendliche einen enormen Reiz aus. Immer wieder verschafften sie sich heimlich Zugang zu den Kinos. 

Die Filmzensur konnte allerdings auch einen durchaus positiven Effekt auf die gesellschaftliche und politische Debatte zeitigen. Das macht Buchautor Matthias Uhlmann mit dem Fall des Nazi-Propagandafilms «Ich klage an» von 1940 deutlich, der als prominentester Fall der Zürcher Filmzensur gilt. Der von NS-Propagandaminister Joseph Goebbels hochgejubelte Streifen des Regisseurs Wolfgang Liebeneiner war ein Plädoyer für die Euthanasie, für die von der NS-Ideologie propagierte «Vernichtung lebensunwerten Lebens». Der Film löste in Zürich heftige Diskussionen aus.

1941 verbot ihn die Zensurkommission als Propagandafilm, «der mit der schweizerischen Rechtsauffassung im Widerspruch steht». Der Verleiher, die Tobis Film, ging bis vor Bundesgericht, um das Verbot anzufechten. Die Beschwerde wurde dort schliesslich abgewiesen. «Ich klage an» blieb im Kanton Zürich verboten.

Andere Besorgnisse
Um den fiktionalen Film, so das Fazit Matthias Uhlmanns, herrsche in der Öffentlichkeit seit den 1990er Jahren Ruhe. Bewegte Bilder böten heute Politik, Psychologen, Erziehern oder Eltern zwar immer noch Anlass zur Besorgnis, jetzt aber in einer anderen Hinsicht: «Dank der flächendeckenden Verbreitung von Smartphones kann jedermann jederzeit im Internet praktisch schrankenlos und unbeschränkt Filme konsumieren, die Pornografie jedwelcher Spielart oder reale Gewalttaten zeigen», so Uhlmann. Die Filmzensur von damals habe es mit fiktionalisierten Darstellungen zu tun gehabt, nun würden Wiedergaben realer Delikte sexueller und nichtsexueller Art zirkulieren.

Weitere Informationen:
Matthias Uhlmann: «Die Filmzensur im Kanton Zürich. Geschichte, Praxis, Entscheide». Verlag Legissima 2019. ISBN: 978-3-033-07030-1

www.legissima.ch

Buch zu gewinnen!

Das «Tagblatt» verlost ein Exemplar von Matthias Uhlmanns Buch «Die Filmzensur im Kanton Zürich. Geschichte, Praxis, Entscheide». Schreiben Sie uns eine E-Mail mit Namen, Adresse, Telefon, E-Mail-Adresse und Betreff Filmzensur an:
gewinn@tagblattzuerich.ch

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