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Gut zu wissen

Verunsichert, erschöpft, resigniert: Die Zürcherin Agathe Mai vor der Linse des Fotografen Carl Durheim kurz nach ihrer Verhaftung in Bern. Bild: Schweizerisches Bundesarchiv

Sie waren heimatlos und finden jetzt virtuell ein neues Zuhause

Von: Jan Strobel

10. März 2015

«Vagabunden» wurden Mitte des 19. Jahrhunderts ins Zuchthaus gesperrt. Auch eine Zürcher Familie.

Das Leben hatte es nicht gut gemeint mit der Zürcher Familie Mai. Was ein Lächeln bedeutet, das wussten Elisabeth, Johann, Joseph und Agathe eigentlich gar nicht mehr, es war entschwunden im Dunst und Nebel der Zeit, was übrig blieb, waren Bitterkeit, Erschöpfung, Resignation. Dabei hatten sie, die Seiltänzer und Schauspieler, alles für das Amüsement der Bevölkerung gegeben, waren durchs Land gefahren für ein bisschen Würde. Für die Polizei konnte bei diesen «Subjekten» von Würde allerdings keine Rede sein. Leute wie die Mais galten Mitte des 19. Jahrhunderts als Übel, als Vagabunden, Heimatlose und Fahrende, denen Einhalt geboten werden musste. Ihre Lebensweise sollte mit Zwangsmassnahmen unterbunden werden. In einer schweizweiten Polizeiaktion von 1849 bis 1852 wurden die Vagabunden aufgegriffen und zur Klärung der Bürgerrechte in Haft gesetzt. So landete auch die Zürcher Familie Mai in einem Berner Zuchthaus – und vor die Linse des Fotografen Carl Durheim, der Porträts von ihr und weiteren 200 Aufgegriffenen anfertigte. Die hilflosen Gestalten, die meistens weder lesen noch schreiben konnten, wurden für die Porträtierung wie Objekte inszeniert. Durheims Porträts bilden den weltweit frühesten zusammenhängenden Bestand an Polizeifotografien. Heute lagert er im Schweizerischen Bundesarchiv.

Den heimatlosen Seelen könnte allerdings eine Wiedergeburt bevorstehen, zumindest im virtuellen Raum. Ein Team junger Datenjäger arbeitet mit Durheims Bildern an einem Konzept für ein einzigartiges Social-Media-Experiment, bei dem die User die Identität eines dieser Verstossenen annehmen. Auch Agathe Mai meldete sich jüngst geisterhaft zu Wort: «Il y a quelqu’un qui parle français?»

Infos zum Projekt: make.opendata.ch/wiki/project:portrait_domain

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