mobile Navigation

Gut zu wissen

Ein erster Blick in den Westen nach Jahrzehnten der Teilung: Szene aus dem Film «Die Mauer» von Jürgen Böttcher. Bild: Thomas Plenert/Defa-Stiftung

Wie der Wind des Umbruchs auch die Zürcher anwehte

Von: Jan Strobel

05. November 2019

Als vor 30 Jahren in Berlin die Mauer fiel, lag sich das politische Zürich gerade wegen der neuen Bau- und Zonenordnung in den Haaren. Die Vorgänge in der DDR, welche die Weltordnung des Kalten Kriegs endgültig zum Einsturz brachten, hatte aber für manchen Zürcher ganz persönliche und einschneidende Konsequenzen.

Gegen 21.15 Uhr wurde die Situation in dieser Nacht des 9. November 1989 am Berliner Grenzübergang Bornholmer Strasse kritisch. Rund 1000 Menschen aus Ostberlin hatten sich dort versammelt und forderten die unverzügliche Ausreise über die Brücke in den Westteil der Stadt. Die war ihnen schliesslich Stunden zuvor an einer denkwürdigen Pressekonferenz vom Sekretär des Zentalkomitees der SED für Informationswesen, Günter Schabowski, zugesagt worden.

Die DDR-Bürger und die Welt reagierten zunächst ungläubig auf diese Eilmeldung. Während sie sich wie ein Lauffeuer auszubreiten begann, nahm die Partei- und Staatsspitze der DDR indessen in einer beängstigenden Realitätsverweigerung kaum Kenntnis davon. Um 23.30 Uhr geriet die Situation an der Bornholmer Strasse angesichts der Masse an Ausreisewilligen ausser Kontrolle. Die in dieser Nacht zuständigen Grenzschützer mussten nachgeben: «Wir fluten jetzt! Wir machen alles auf!»

«Gelernter DDR-Bürger»
Das Beben, das diese Nacht und die kommenden Tage des Mauerfalls auslösten, war natürlich auch im fernen Zürich registriert worden. Die Medien berichteten emotionsgeladen. Der «Blick» etwa titelte in jener Woche: «Freiheit und Trabi-Abgase: Das ist die neue Berliner Luft, Luft, Luft!»

Doch während auf der Mauer die Champagnerkorken knallten und sich die Berliner in den Armen lagen, ging es an der Limmat weiter relativ nüchtern zu und her. Die Zürcher Börse zum Beispiel zeigte sich durch die Ereignisse kaum beeindruckt, ganz anders als etwa die Börsen in New York und Tokio, wo die Indexe rekordverdächtig zulegten. Dennoch spekulierte man am Paradeplatz bereits mit einem künftig entspannten Ost-West-Geschäft, in dem Zürich zu einer neuen und vor allem neutralen Drehscheibe aufgebaut werden sollte.

Das politische Zürich freilich hatte in diesen Tagen ganz andere Sorgen. Im Stadtrat brodelte es nämlich gewaltig. In der Exekutive schienen gerade Mauern hochgezogen zu werden, konkret zwischen Stadtpräsident Thomas Wagner und Stadtrat Kurt Egloff auf der einen und Stadträtin Ursula Koch auf der anderen Seite. Die beiden Lager lagen wegen der neuen Bau- und Zonenordnung in einem üblen Hickhack samt Strafbefehlen, Geldbussen und dem Vorwurf der Amtsgeheimnisverletzung. Die beiden bürgerlichen Stadträte, so Ursula Koch, hätten ein zu enges Verhältnis mit der Bauwirtschaft. An die grosse historische Stunde globalen Ausmasses war angesichts dieser Krise natürlich kaum zu denken.

Die Vorgänge in der DDR freilich liessen sich politisch trotzdem vortrefflich als Argumentationswaffe einsetzen. Zum Beispiel in der Debatte um die Armeeabschaffungsinitiative, welche die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) lanciert hatte. Die FDP Stadt Zürich diskutierte vorgängig in einem Podium über die Vorlage. Mit dabei waren der Zürcher FDP-Ständerat Rico Jagmetti und die FDP-Stadtratskandidatin Franziska Frey-Wettstein, die sich vehement gegen die GSoA-Initiative aussprachen. Der sich abzeichnenden Zeitenwende trauten sie vorderhand nicht über den Weg. Vor dem Hintergrund der Ereignisse in der DDR mahnte Rico Jagmetti zur ­Besinnung und warnte vor «nur scheinbaren Entspannungen auf politischen Parketten», wo unvermittelt auch eine andere Stimmung herrschen könne.

Zu schaffen machten den Zürchern in diesen Tagen und Wochen auch die wiederholten Demonstrationen gegen die Wohnungsnot, die jeweils zu regelrechten Saubannerzügen vermummter Chaoten ausarteten und Schäden in Millionenhöhe verursachten. Auch hier richtete sich der Blick in den ­Appellen zur Vernunft Richtung Osten. «Chaoten, lernt von der DDR!», rief «Blick»-Kolumnist Turi Honegger den Vandalen entgegen. Das Beispiel DDR zeige, so  Honegger, «dass friedliches Flagge-Zeigen viel eher zum Ziel führt als sinnlose Zerstörungswut, die als Gegenreaktion zu einer Eskalation der Gewalt führt». Nichts sei dagegen in der DDR in Trümmer gegangen – ausser das Regime.

Es gab aber auch Zürcher, die vom sich abzeichnenden Untergang der DDR direkt betroffen ­waren, und die diesen Vorgang als regelrechtes persönliches Drama, wenn nicht sogar als Scheitern und als Verrat erlebt haben mochten. Ein Beispiel war der Journalist Jean Villain, der als Marcel Bruno Brun in einem grossbürgerlichen Haus am Zürichberg aufgewachsen war und 1961, im Jahr des Mauerbaus, in die DDR übersiedelte. Dort arbeitete der überzeugte Linke als Korrespondent für das PdA-Organ «Vorwärts» und wurde schnell Teil des regimetreuen intellektuellen Establishments. Überdies soll Vil­lain als inoffizieller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit unter dem Decknamen «IM Erwin» tätig gewesen sein.

Der Zürcher bezeichnete sich gern und mit Stolz als «gelernter DDR-Bürger». Noch im September 1989 hatte Villain in Zusammenhang mit den Fluchtwellen aus der DDR von den «miesen Zielen der BRD» gesprochen. Als das System seiner ideologischen Träume endgültig zusammenbrach, gab er seine Hoffnungen dennoch nicht ganz auf: «Die Schweiz müsste ein ehrliches Interesse haben an einem funktionierenden demokratischen Sozialismus in der DDR, weil Europa dadurch stabiler würde.»

Ein Jahr nach dem Mauerfall meldete er sich mit einem Buch wieder zu Wort: «Die Revolution verstösst ihre Väter». Darin flackerte im­merhin ein wenig Selbstreflexion über seine Rolle in der DDR auf: Der Zürcher schrieb von einer «­unheimlichen Form von Bewusstseinsspaltung, die uns offensichtlich immer wieder Übles hin­nehmen oder sogar decken liess, und mit der wir uns doch stets von neuem abfanden».

Weitere Informationen:
Das Filmpodium zeigt anlässlich des 30-Jahr-Jubiläums des Mauerfalls den Dokumentarfilm «Die Mauer» von Jürgen Böttcher (DDR 1990).

Do, 14.11., 18.30 Uhr.
www.filmpodium.ch

Tickets zu gewinnen!

Das «Tagblatt der Stadt Zürich» verlost 2×2 Tickets für den Film «Die Mauer» im Filmpodium Zürich (Do, 14.11., 18.30 Uhr). Schreiben Sie uns eine E-Mail mit Namen, Adresse, Telefon, E-Mail-Adresse
und Betreff Mauer an:
gewinn@tagblattzuerich.ch

zurück zu Gut zu wissen

Artikel bewerten

Gefällt mir 6 ·  
Noch nicht bewertet.

Leserkommentare

Keine Kommentare