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Interview

Das Amt der Zürcher Kantonsratspräsidentin (hier in einem altehrwürdigen Raum des Parlamentsdienstgebäudes Haus zum Rechberg) erfüllt die 71-jährige Grünen-Politikerin Esther Guyer trotz der intensiven Arbeit mit viel Freude. Bild: Enzo Lopardo

Der krönende Abschluss ihrer Politkarriere

Von: Sacha Beuth

12. Juli 2022

Seit dem 2. Mai ist Esther Guyer (71) die Präsidentin des Zürcher Kantonsrats und somit offiziell «höchste Zürcherin». Die Grünen-Politikerin und ehemalige Pharma-Assistentin erlebte gleich zu Beginn ihres Amtsjahres einige Turbulenzen. Die Freude an ihrer Aufgabe ist dennoch ungetrübt. 

Sie sind nun annähernd 100 Tage im Amt. Wie lautet Ihre Bilanz?

Esther Guyer: Es war bislang eine spannende und arbeitsintensive Zeit – selbst wenn es in den ersten Wochen noch keine schwierigen Geschäfte zu behandeln gab. Die Aufgaben im Parlament, die Sitzungsleitung, die Organisation, der Umgang mit den Mitarbeitenden, also das Kerngeschäft, bereiten mir grosse Freude. Besonders geniesse ich es, dass man wieder Anlässe durchführen kann, rausgehen, sich wieder physisch treffen kann. Egal, ob das nun mit Vertretern von Gehörlosen oder vom Militär ist.

Hat das nicht gerade berauschende Wahlresultat mit 133 von 176 Stimmen einen Nachgeschmack hinterlassen oder kratzt das eine alte Häsin wie Sie gar nicht mehr?

Das Wahlresultat war mau, da können wir das Kind schon beim Namen nennen. Gewundert hat mich das nicht, dafür bin ich schon zu vielen Leuten auf die Füsse getreten. Und natürlich ist es auch so, dass die «Grüne Welle», welche nach den letzten Wahlen unter anderem national, in der Stadt Zürich und in Winterthur Grüne in die jeweiligen Präsidien hob, auch mir geholfen hat. Denn wäre es nach dem normalen Turnus gegangen, hätten die Grünen erst in zehn bis zwölf Jahren eine Kantonsratspräsidentin oder einen Kantonsratspräsidenten stellen dürfen. Es zeigt, dass sowohl die Partei wie ich selbst aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger die richtigen Themen angegangen und gute Arbeit geleistet haben. Wie auch immer, am Schluss zählt: Gewählt ist gewählt. Und nun bildet das Kantonsratspräsidium für mich – nach 24 pickelharten Jahren in der Opposition im Kantonsrat – den krönenden Abschluss meiner Politkarriere.

Eine Ihrer ersten Amtshandlungen war, dass Wortmeldungen nach dem Prinzip «first come, first speak» durchgeführt werden und nicht mehr nach Parteigrösse. Gibt es deswegen immer noch Ärger im Parlament?

Nein, das ist inzwischen breit akzeptiert und hat sich gut eingependelt. Die Massnahme sorgt eindeutig für mehr Abwechslung und mehr taktische Möglichkeiten. Nun haben es die Ratsmitglieder selber in der Hand, ob sie zuerst oder lieber am Schluss reden wollen. Für jene von kleineren Parteien, die gewohnt waren, dass sie erst am Schluss drankamen, war das sehr ungewohnt. Die sind teilweise regelrecht erschrocken, wenn ich sie aufrief, weil sie zuerst für eine Wortmeldung ihren Knopf gedrückt hatten.

Für Aufsehen sorgte auch der Vorfall, bei der Sie Regierungsrat Mario Fehr eine Beschränkung der Redezeit auferlegten. Die Ansichten, ob dies nun legitim sei oder nicht, gingen bei Ihnen und Herrn Fehr dann weit auseinander. Ist dieser Fall nun geklärt?

Wir haben dies im Parlamentsdienst nochmals genau angesehen. Es ist so, dass wir schon vor längerer Zeit entschieden haben, dass ein Regierungsrat die gleich lange Redezeit erhält wie ein Kantonsrat, in diesem Fall zwei Minuten. (Esther Guyer war vor der Präsidiumsübernahme mehrere Jahre in der Geschäftsleitung des Kantonsrats tätig, die Red.). Letzterer kann allerdings mehrmals zu einem Thema sprechen, wenn er dies für nötig empfindet. Nun gibt es das Instrument der Erklärung, auf das sich Mario Fehr berief. Nur kann dies nicht einfach mitten in der Debatte um einen Vorstoss angewendet werden. Wenn mir Herr Fehr vor Beginn seiner Rede gesagt hätte, er wolle eine Erklärung abgeben, dann hätte ich ihm vor Beginn der Debatte das Wort erteilt. Abgesehen davon habe ich ihn ohnehin etwas länger reden lassen. Das tue ich, wenn ich merke, dass jemand trotz der abgelaufenen Zeit nächstens zum Abschluss kommt. Aber das war bei Mario Fehr nicht der Fall, darum musste ich eingreifen. Die Sache ist jedenfalls geklärt und Mario Fehr und ich reden wieder miteinander.

Apropos. Bei der Debatte um die Notenpflicht in Primarschulen meinten Sie: «Niemand darf im Rat fluchen, höchstens ich.» Wie wurde dies von allen beherzigt?

Wer nicht spurt, der wird abgemahnt (lacht). Im Ernst. Das war auch ironisch gemeint, denn als Fraktionschefin war ich bekannt für Zwischenrufe. Und die waren während meiner 24 Jahre im Kantonsrat bisweilen schon ziemlich heftig. Von daher habe ich sehr viel Verständnis für Emotionen.

Wie ist das nun, wenn man – um eine Analogie passend zur aktuellen Fussball-EM der Frauen zu benutzen – statt als Stürmerin als Spielleiterin wirken muss?

Da muss man sich natürlich anpassen. Jetzt bin ich die, die Ruhe ins Parlament bringen muss. Das fällt mir nicht immer leicht, aber ich denke, es gelingt mir ganz gut. Auch, weil ich glücklicherweise zwei Jahre auf dem Bock als Vize-Präsidentin üben konnte. Trotzdem: Dieses Parlament zu leiten, ist nicht ganz einfach. Zumal die Wertschätzung für die Arbeit im Kantonsrat generell allgemein relativ gering ist.

Die SVP ist offenbar anderer Meinung und fordert, die Sitzungstage im Kantonsrat zu kürzen. Was halten Sie davon?

Das Geschäft wurde eben überwiesen und wird nun von uns behandelt. Bislang stiess es nicht auf besonders viel Resonanz. Persönlich bin ich der Meinung, dass dies nichts bringt. Erstens wird die Organisation des Rates schwieriger, man verliert an Flexibilität und zweitens kann man dann kaum einmal ein grosses Gesetz fertig behandeln, da die Abstände viel zu gross werden. Ein Beispiel: Allein für das Wassergesetz sind über 30 Anträge eingebracht worden. Dafür wird mindestens ein ganzer Tag benötigt. Zudem hat die Corona-Krise gezeigt, wie wichtig es ist, wenn das Parlament spontan und sehr schnell reagieren kann. Innerhalb kürzester Zeit sind wir im Frühjahr 2020 in die Messehalle 9 in Oerlikon umgezogen und haben dort physisch tagen und die Finanzen für die Unterstützungsprogramme verabschieden können. Es gibt also nicht zu viele Sitzungstage. Vielleicht müsste der eine oder andere Parlamentarier beziehungsweise Parlamentarierin eher überlegen, ob er oder sie sich nicht zu viel Nebenbeschäftigungen in Verwaltungsräten aufhalsen.

Stichwort Messehalle 9. Vor ein paar Wochen konnte dort eine Frau unbemerkt eindringen und Igelkot auf dem Rednerpult deponieren. Wie erlebten Sie die Situation?

Das Problem ist, dass es in dieser Halle sehr heiss werden kann. In den Pausen werden darum die Türen geöffnet. Die Frau, offenbar eine Igelaktivistin, konnte auf diese Weise ins Gebäude gelangen. Sie marschierte einfach an etwa einem Dutzend Personen vorbei, von denen niemand reagierte, drang bis zum Rednerpult vor und schrie: «Ihr seid schuld, dass es keine Igel mehr gibt in der Stadt.» Darauf deponierte sie nach eigenen Aussagen Igelkot auf dem Pult. Erst danach wurde sie trotz Widerstand vom Parlamentssekretär rausgebracht. Währenddessen standen mehrere Parlamentsmitglieder um das Häufchen herum und starrten es wie paralysiert an. Bis ich dann herunterstieg und die Bescherung selber wegputzte. Zwar habe ich eine gewisse Sympathie für unorthodoxe Proteste und musste hinterher über den Vorfall lachen. Doch was, wenn das nicht eine offenbar verwirrte Frau, sondern es sich um einen Protest mit böswilliger Absicht gehandelt hätte? Das darf nicht passieren. Darum haben wir die Sicherheitsmassnahmen nochmals verschärft.

Im Februar 2023 ist es mit dem Tagungsprovisorium in Oerlikon vorbei. Dann kann das Parlament in die Bullingerkirche ziehen.

Darauf freue ich mich jetzt schon. Nicht nur, weil es dort kühler ist. In der Messehalle versteht man sich kaum und sieht sich auch nicht recht. In der Bullingerkirche werden wir dann wie zuvor im Rathaus wieder eine hufeisenförmige Sitzordnung einnehmen. Das heisst, man sitzt dem politischen Gegner wieder Aug in Aug gegenüber. Man bekommt dessen Reaktionen mit und kann darauf das eigene Vorgehen abstimmen. Dafür sollte man sich dann bezüglich der Sprache und des Fluchens noch mehr zusammennehmen, schliesslich befindet man sich in einem sakralen Raum.

Was haben Sie sich für den Rest Ihrer Amtszeit vorgenommen. Welche Schwerpunkte wollen Sie – im Bereich Ihrer Möglichkeiten – setzen?

Am wichtigsten ist für mich, dass wir alle Geschäfte innerhalb einer sinnvollen Zeit durchbringen, die aus den Kommissionen und der Regierung kommen. Das hat Priorität. Wir haben viele Probleme, die Klimakrise, der russische Angriffskrieg in der Ukraine, die Energiewende, die Wetterextreme. Der Angriff auf die demokratischen Mitspracherechte auch in europäischen Ländern verspricht nichts Gutes. Wir müssen die demokratischen Errungenschaften stärken und Verantwortung übernehmen. Ebenfalls ist mir wichtig, dass wir in Krisenfällen besser gerüstet sind. Covid hat gezeigt, dass zum Beispiel der Polizeiartikel in der bestehenden Form für gewisse soziale Bereiche – etwa für die Unterstützung der Krippen – nicht ausreicht. Da müssen wir nachbessern. Es gibt viel zu tun. 

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