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Interview

Der designierte Gemeinderatspräsident Matthias Probst (Grüne): «Meine Hauptaufgabe in diesem Amt ist, sicherzustellen, dass der demokratische Prozess im Parlament funktioniert.» (Bild: Enzo Lopardo)

Der Volksvertreter, dem Brimborium fernliegt

Von: Isabella Seemann

04. Mai 2022

Einst gehörte er als Junger Grüner zu den jungen Wilden im Stadtparlament. Doch 16 Jahre in der Legislative haben ihn gezähmt: Heute werden die Mitglieder des Gemeinderats den Grünen Matthias Probst voraussichtlich zum «höchsten Zürcher» wählen. 

Als die Jungen Grünen 2006 erstmals ins Stadtparlament einzogen, gehörten auch Sie zu den «jungen Wilden». Heute werden Sie voraussichtlich zum «höchsten Zürcher» gewählt. Wie hört sich das in Ihren Ohren an?

Matthias Probst: Auch wenn sich meine Positionen nicht wesentlich änderten, bin ich kein junger Wilder mehr, sondern mache nun institutionelle Politik und weniger aktionistische. Diese Lücke füllen fünf neue Junge Grüne im Parlament, was mich sehr freut. Ich bin angekommen in der Politik, kenne die Stadt und die Institutionen sehr gut und weiss, wo man Einfluss nehmen kann und wo nicht. Mittlerweile gehöre ich zu den Amtsältesten. Das Brimborium rund um das Amt als «höchster Zürcher» ist mir nicht wichtig, mich reizen vielmehr die neuen Herausforderungen. Ich politisiere im Konsens und versuche Brücken zu schlagen – als Gemeinderatspräsident werde ich das verstärkt tun, denn ich bin für alle da.

Im Laufe Ihrer Politkarriere haben Sie zuweilen polemisch und radikal auf Ihre Anliegen aufmerksam gemacht, wie mit dem Nacktauftritt gegen Leibesvisitationen der Polizei, und sorgten im Gemeinderat mit Auftritten im ärmellosen T-Shirt für Nasenrümpfen. Wird man Sie an repräsentativen Anlässen nun mit Krawatte sehen?
Nein, ich werde mich nicht verkleiden für dieses Amt. Ich sehe mich als Volksvertreter, und genau so sitze ich im Parlament. Es ist mir wichtig, das Amt des Gemeinderatspräsidenten mit der Aufgabe auszufüllen, für das es gedacht ist. Ich muss wissen, wie der demokratische Rechtsstaat funktioniert, und nicht, wie man eine Krawatte bindet.

Was möchten Sie in Ihrem Jahr als Gemeinderatspräsident erreichen?

Meine Hauptaufgabe in diesem Amt ist, sicherzustellen, dass der demokratische Prozess im Parlament funktioniert. Gegen aussen möchte ich aufzeigen, dass unsere Demokratie und unsere Freiheiten nicht einfach so existieren, sondern weil wir uns um das Funktionieren der demokratischen Institutionen bemühen. Die Schweiz ist eine demokratische Perle, auch im Hinblick auf die Partizipationsmöglichkeiten der Bürger und Bürgerinnen. Manches Land könnte sich da noch eine Scheibe abschneiden.

Manche Medien beschwören die Spaltung der Gesellschaft. Welchen Beitrag können Sie in Ihrem Amt leisten, um sie zu überwinden?

Ich glaube nicht, dass es eine Spaltung gibt, aber ich spüre, dass bei einem Teil der Bevölkerung ein tiefes Misstrauen gegenüber den Institutionen entstanden ist, und dieses gilt es ernst zu nehmen. Natürlich hat der Staat, um die Pandemie zu bekämpfen, tiefer in die Freiheitsrechte eingegriffen. Und würde sich der Krieg ausweiten, würde sich dies noch steigern. Umso wichtiger ist es, das Vertrauen in die demokratischen Institutionen zu stärken. Als Gemeinderatspräsident kann ich daran mitarbeiten und an Orten, an denen ich eingeladen bin, versuchen aufzuzeigen, dass der Staat nicht willkürlich handelt, sondern geregelte Prozesse verfolgt, die man über Jahrhunderte entwickelte und die weiterhin verbessert werden. Wir lernen stets dazu, die Prozesse sind transparent, die Parlamentssitzungen öffentlich dokumentiert.

 

 

 

Zur Person
Matthias Probst, geboren am 13. Juni 1982 in Grenchen und aufgewachsen in Trubschachen im Emmental, in Wetzikon sowie in Bäretswil (ZH), studierte Umweltnaturwissenschaften an der ETH und ist selbständig tätig als Umweltberater. 2006 wurde er für die Jungen Grünen in den Gemeinderat gewählt, wo er heute den Kreis 11 repräsentiert. Er lebt im Hunziker-Areal in Schwamendingen in einem Grosshaushalt mit seiner Partnerin und ist Vater zweier Kinder. Als Hobby nennt er «Velotüürlen, Schreinern für Fortgeschrittene und Neues schaffen». BEL

 

 

Wir treffen uns beim Dorfbrunnen im Hunziker-Areal in Zürich-Leutschenbach. Welche Bedeutung hat dieser Ort für Sie?

Das ist mein Daheim, hier wohne ich seit bald zehn Jahren. Ich gehöre zu den Ersten, die hier einzogen, ich bin im Vorstand der Genossenschaft und engagiere mich ehrenamtlich fürs Quartier. Das Hunziker-Areal ist vor allen Dingen ein Nachbarschaftsprojekt, es gibt über 60 Quartiergruppen, die Aktivitäten organisieren. Es ist ein schöner und ein spannender Ort, denn es ist auch ein Stadtlabor, in dem viel Neues ausprobiert und entwickelt wird.

Was beschäftigt die Bewohner Ihres Wahlkreises 11 am meisten?

Es sind Themen von städtischer Tragweite, die sich hier am Stadtrand besonders akzentuieren, wie Verkehrsbelastung, Wohnungsnot, Verdichtung und eine meines Erachtens unvernünftige Stadtentwicklung. So gibt es Richtung Neu-Affoltern und Seebach kaum Arbeitsplätze, die Quartiere entwickelten sich zu Wohnghettos. Dafür hat es ennet dem Milchbuck zu viele Arbeitsplätze, die massive Pendelströme verursachen und das ganze Leben aus den äusseren Quartieren abziehen. Es herrscht ein massives Ungleichgewicht. Ein Thema sind auch die städtischen Parkanlagen und öffentlichen Freiräume, die es in Affoltern, Seebach und Schwamendingen nicht gibt.

Welche Entwicklungen in Zürich bereiten Ihnen Sorge?

Die Verdrängung von Menschen, die sich Zürich nicht mehr leisten können. Jahrelang haben sie sich für die Stadt engagiert und müssen plötzlich weg, weil ihnen gekündigt wurde und sie hier keine neue Wohnung mehr finden. Das ist fies. Da müssen wir sehr viel aktiver dagegensteuern. Die soziale Durchmischung ist äusserst wichtig für die Stadtentwicklung und fürs Gleichgewicht in der Gesellschaft. Das andere grosse Thema ist der Verkehr, das als Problem Nummer eins in Umfragen angesehen wird. Es ist ein Lärm- und ein Platzproblem. Doch das entwickelt sich momentan recht erfreulich. Inzwischen haben Stadtverwaltung und der Stadtrat begriffen, dass die Bevölkerung einen Umbau möchte.

57 Prozent der Stimmberechtigten sagten Ja zum Verkehrsrichtplan.

Ich glaube, die allermeisten Leute hätten es, dort wo sie wohnen, gerne ruhiger, und sie möchten mehr Freiraum. Dann ist es halt ein bisschen doof, wenn man die Fläche, die man rundherum hat, mit Parkplätzen vollstellt.

«Nur ein toter Parkplatz ist ein guter Parkplatz», haben Sie mal gesagt. Wie erklären Sie Handwerkern Ihre Politik?

Diesen Satz habe ich vor etwa zehn Jahren gesagt, und er wird mir noch immer nachgetragen, obwohl ich das heute nicht mehr so spitz formulieren würde. Aber grundsätzlich bin ich der Ansicht: Man verschwendet wertvollen Raum, wenn man ihn für Parkplätze zustellt. Wir brauchen den Raum zum Atmen, zum Draussensein, um mit den Kindern zu spielen. Die Stadt wäre viel lebenswerter, wenn man sie nicht mit Parkplätzen zustellte. Das Problem des Handwerkers und der Handwerkerin, die den Parkplatz benötigen, sind andere Leute, die den Parkplatz benutzen, aber nicht wirklich benötigen, wie die Damen und Herren, die im Anzug mit dem Auto ins Büro fahren, obwohl sie den ÖV benutzen könnten.

Was entfachte das Feuer der Politik in Ihnen?

Es fing gegen Ende der Kantonsschule an und zwar auf internationaler Ebene. Mich beschäftigte das globale Ungleichgewicht und wie eine sich selbst auserlesene Elite sich an grossen Anlässen trifft, um zu diskutieren, wie sie die Welt unter sich aufteilt. Als Teenie ging ich nach Davos, um dagegen zu demonstrieren. Ich lernte Gleichgesinnte kennen, und am Schluss landete ich in der Lokalpolitik. Sensibilisiert hat mich aber auch mein Elternhaus, mein Vater ist Ortspräsident der EVP Bäretswil.

Wo positionieren Sie sich im politischen Spektrum?

Ich bin das, was man eine Melone nannte, aussen grün, innen rot. Ich positioniere mich in der linksliberalen Ecke. Gerade in der Umweltpolitik kann ich mir einen liberalen Ansatz vorstellen, beispielsweise mit der CO₂-Lenkungsabgabe, die das urliberalste Instrument wäre, um einen griffigen Umweltschutz zu verankern.

Würden Sie zustimmen, dass gute Argumente besser sind als Verbote?

Anreize und Verbote sind keine Gegensätze, sondern eine Abfolge im angestrebten Wandel, und das Verbot ist das letzte Mittel. Das Verbot von FCKW-Gas in Geräten beispielsweise stört heute niemanden mehr. Dasselbe Prinzip gilt für die Nutzung fossiler Energieträger. Am Anfang steht der Anreiz zum Umstieg, beispielsweise über den Preis, um die grosse Masse abzuholen. Sobald eine Mehrheit freiwillig die angestrebten Massnahmen übernommen hat, müssen wir jene, die sich auf Kosten aller anderen erlauben, den Planeten zu zerstören, zu ihrem Glück zwingen. Dann kann man mit dem Verbot den letzten alten Zopf abschneiden. Das ist der natürliche Lauf der Politik. Die Frage, über die wir streiten, ist, an welchem Punkt des Wandels wir uns heute befinden.

Mit welcher Persönlichkeit der Zürcher Geschichte würden Sie gerne bei einem Glas Wein diskutieren?

Ich wäre gerne bei den Treffen dabeigewesen, als mitten im Ersten Weltkrieg die Dada-Bewegung, die ja auch eine Anti-Kriegsbewegung war, in Zürich entstand. Die Dadaisten haben die bürgerlichen Normen in Frage gestellt und darauf hingewirkt, dass jede und jeder Kunst machen kann. Das hat etwas sehr Befreiendes und Inspirierendes.


Weitere Informationen:
Die Bevölkerung von Zürich Nord ist anlässlich der Wahl des Gemeinderatspräsidenten zum öffentlichen Apéro heute Mittwoch, 4. Mai um 18 Uhr, eingeladen, welcher auf dem Hunzikerareal in Oerlikon stattfindet.

Der Apéro ist eingebettet in das Hunziker Festival 2022.

www.hunzikerfest.ch

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