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Interview

Fredy Wettstein kam während seiner Laufbahn als Sportjournalist mit vielen Fussballgrössen zusammen: So etwa 1987 mit Daniel Jeandupeux (r.), dem damaligen Schweizer Nationaltrainer. Bild: Privat

«Diese Nati ist eine der besten, die wir je hatten»

Von: Werner Schüepp

08. Juni 2021

EM-EXPERTENTALK Fredy Wettstein (69), ehemaliger Sportchef des «Tages-Anzeiger» und der «Sonntags-Zeitung», gilt als einer der versiertesten Kenner der nationalen und internationalen Fussballszene. Er sagt, wie es war, als Maradona plötzlich neben ihm im Lift stand, was er von der EM 2021 in Corona-Zeiten hält, wo die Stärken und Schwächen der Schweizer National-Elf liegen und wer Europameister wird.

Als langjähriger Sportchef des Tages-Anzeigers und der SonntagsZeitung waren Sie an zehn Fussball-Weltmeisterschaften und acht Europameisterschaften vor Ort dabei. Ihr verrücktestes Erlebnis?

Fredy Wettstein: Unvergessliche waren einige, aber ein verrücktes? Vielleicht das: Es war die WM 1990 in Italien, ich war in Mailand, wollte spätnachts mit dem Hotellift in mein Zimmer. Im zweiten Stock ging plötzlich die Tür auf, Diego Maradona trat in den Lift. Ich war völlig perplex, mein Spanisch miserabel, im vierten Stock ging er wieder. «Buenas noches» stammelte ich nur, er nichts. Ging einfach wieder hinaus. Aber er war es.

Wo sind Sie, wenn die Fussball-EM eröffnet wird?

Ich hatte für letztes Jahr zwei Tickets gekauft, für Italien - Schweiz in Rom, wollte mit meinem Sohn gehen. Ich weiss aber bis heute (Stand: Ende Mai) nicht, ob ich sie für diesmal erhalte, da ja auch in Rom nur begrenzt Zuschauer zugelassen sind. Wenn nicht: Wohl im Ristorante Totò im Zürcher Seefeld mit vielen anderen vor einem Grossbildschirm.

Das Turnier wird, verteilt auf ganz Europa, erstmals in elf Städten stattfinden. Ein absolutes Novum. Was halten Sie davon?

Ich fand es schon eine Schnapsidee, als damals Michel Platini auf die Idee kam, 2020 eine Europameisterschaft in halb Europa durchzuführen. Dann kam Corona, und ich finde es noch problematischer und dachte lange, sie muss auch 2021 wieder abgesagt werden. Auch wenn inzwischen viele Menschen geimpft sind, die Spieler komplett abgeschirmt werden und viel weniger Zuschauer in den Stadien sind – es bleibt gefährlich.

Es wird wegen Corona keine vollen Stadien mit jubelnden Fans geben. Hat dies einen negativen Einfluss auf die Spieler?

Nein, die Spieler mussten sich längst daran gewöhnen, ohne Fans zu spielen. Man hört sie – und auch die Trainer – dafür umso besser.

Das erste Gruppenspiel der Schweizer gegen Wales findet in Baku statt, das zweite gegen die Italiener in Rom, das dritte gegen die Türkei wieder in Baku. Die Mannschaft muss weite Wege zurücklegen und hat kein Stammquartier. Ein Nachteil?

Keine andere Mannschaft muss mehr Flugkilometer zurücklegen, Zürich–Baku–Rom–Baku, dann hoffentlich nicht zurück nach Zürich … das sind mindestens 13 000 Kilometer. Ein Nachteil? Die Schweizer sitzen einfach länger im Flugzeug, gewinnen sie das erste Spiel, vergisst man das, verlieren sie, dann wird man klagen.

Die Schweiz spielt in Gruppe A. Wie schätzen Sie diese ein?

Italien: stark; Wales: unangenehm; Türkei: Erinnerungen, zwar schöne, aber auch unschöne (Attacken von türkischer Seite auf Mitglieder der Schweizer Nati beim Playoff zur WM 2006, die Red).

Wer ist Ihr Gruppenfavorit?

Ganz klar Italien! Die Italiener sind jetzt seit 26 Spielen ungeschlagen, von den zehn Ausscheidungsspielen zur EM gewannen sie alle zehn.

Die Schweizer Nationalmannschaft fährt mit viel Selbstbewusstsein an die EM. Wo liegen ihre Stärken und Schwächen?

Vom Talent her ist sie eine der besten, die wir je hatten. Sie ist routiniert, viele Spieler stehen in ihrem wohl besten Alter als Fussballspieler, der älteste in der Stammformation (Sommer) ist 32, der jüngste (Elvedi) 24. Aber: Nicht alle spielten in den letzten Monaten bei ihren Klubs oft. Und es stellen sich einige Fragen: Ist Xhaka der grosse Stratege? Sommer der grosse Rückhalt? Welchen Shaqiri erleben wir? Trifft Seferovic wie mit seinem Klub Benfica? Und: Sind die Spieler auf dem Rasen so selbstbewusst wie sie es mit Worten sind?

Wie weit kommt die Schweizer National-Elf?

Ein zweiter Rang in der Gruppe wäre schön, ein dritter reicht vielleicht auch für die Achtelfinals, 16 von 24 Mannschaften kommen ja weiter. Aber dann? Wir haben keine guten Erinnerungen. Mein Tipp: Gruppendritter, dann Deutschland im Achtelfinal, 1:2 in der Verlängerung.

Welchen Schweizer Spielern trauen Sie während des Turniers einen Effort zu?

Shaqiri, weil er aussergewöhnlich sein kann. Und seine Muskeln hoffentlich für einmal nicht zum Problem werden.

Wer spielt im Final am 11. Juli im Londoner Wembley-Stadion?

Italien gegen Deutschland. Italien gewinnt 3: 2 nach Verlängerung, auch wenn ich dem Trainer der Deutschen, Jogi Löw, zu seinem Abschied etwas anderes wünschen würde.

Zur Person

Fredy Wettstein (69) war 28 Jahre lang Sportchef des «Tages-Anzeiger» und der «Sonntags-Zeitung». Heute betreibt er im Internet den Blog «Im Auge» – Gedanken über den Sport und auch darüber hinaus. wiederimauge.blogspot.com

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