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Interview

Hilft ein höherer Mindestlohn gegen Erwerbsarmut? Symbolbild: iStock

Dringend nötige Hilfsmassnahme oder der falsche Weg?

Von: Sacha Beuth

23. Mai 2023

URNENGANG Am 18. Juni stimmt die Bevölkerung der Stadt Zürich über fünf Vorlagen ab. Im allgemeinen Fokus steht dabei der Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Ein Lohn zum Leben». Links und Mitte begrüssen die sozialpolitische Massnahme, das rechtsbürgerliche Lager lehnt ihn als nicht zielführend ab. Im Vorfeld des Urnengangs hat das «Tagblatt» Mélissa Dufournet (35), FDP-Gemeinderätin und Anwältin, und Fanny de Weck (40), SP-Gemeinderätin und Anwältin, zu einem Rededuell geladen.

Nach dem deutlichen Nein zur eidgenössischen Volksinitiative für einen nationalen Mindestlohn 2014 soll nun erneut, dieses Mal auf Gemeindeebene, über einen Mindestlohn abgestimmt werden. Macht das überhaupt Sinn?

Mélissa Dufournet: Aus unserer Sicht nicht. Die Problematiken sind ähnlich wie 2014. Das heisst, es würden die Konsumentenpreise in die Höhe getrieben, für Personen im Niedriglohnbereich, aber auch Langzeitarbeitslose würden sich die Jobchancen verschlechtern, da es mehr Konkurrenz in einer bestimmten Lohnklasse gibt. Die Sozialpartnerschaft zwischen den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden wird untergraben und die Verwaltung aufgebläht. Entsprechend sind wir auch dieses Mal gegen die Einführung eines Mindestlohns.
Fanny de Weck: Selbstverständlich ist es sinnvoll, über einen städtischen Mindestlohn abzustimmen. Die Mieten haben sich seit 2014 massiv erhöht. Die Teuerung belastet die Haushalte immer stärker, insbesondere bei tiefen Einkommen. Man muss sich bewusst sein, dass es in der Stadt Zürich aktuell rund 17 000 Personen gibt, die – bei Vollzeitpensum! – im absoluten Tieflohnbereich arbeiten. Davon sind zwei Drittel Frauen. Es darf nicht sein, dass man in der Stadt Zürich zu einem Lohn arbeiten muss, der nicht existenzsichernd ist.
Dufournet: Bezüglich der erwähnten 17 000 Personen ist es ganz wichtig, hier zu differenzieren. In der Zahl sind zwar alle enthalten, die unter 23 Franken pro Stunde verdienen. Nur gibt dieser Stundenlohn nicht zwingend darüber Auskunft, ob eine Person genug zum Leben hat oder nicht. Ein Student, der einen Nebenjob hat und noch bei seinen Eltern am Zürichberg wohnt, dürfte mit einem Monatsverdienst von 4000 Franken kein Problem haben. Ein alleinerziehender Vater mit zwei Kindern mit dem gleichen Lohn dagegen schon.
De Weck: Der Vorschlag, der nun zur Abstimmung kommt, nimmt ja eben gerade Personen bis 25 Jahren ohne Erstausbildung von dieser Regelung aus. Zudem: Wir reden hier von einem Mindestlohn von 23.90 Franken brutto. Absolut Jeder, der in diesem Bereich arbeitet ist auf jeden Franken angewiesen, selbst wenn er nicht unter die statistische Armutsgrenze fallen sollte. Hier anzunehmen, es könnten die Falschen «profitieren» verkennt die Lebensrealitäten der Betroffenen im Tieflohnbereich.

Die Frage, ob Mindestlöhne auf Gemeindeebene rechtens sind, ist noch nicht geklärt, weshalb der Gewerbeverband Zürich Rekurs beim Bezirksrat gegen eine entsprechende Verordnung der Stadt Zürich eingereicht hat. Was, wenn die Vorlage angenommen, aber dann dem Rekurs zugestimmt wird?

De Weck: Das Bundesgericht hat 2017 festgestellt, dass moderate Mindestlöhne, die eine sozialpolitische Massnahme darstellen, auch auf Kantonsebene rechtens sind. Der Mindestlohn, der in Zürich zur Abstimmung kommt, ist eine sozialpolitische Massnahme. Er entspricht nicht einmal der Hälfte des Medianlohns und ist somit sehr moderat. Auf Basis dieses Bundesgerichtsentscheids sind zwei Rechtsgutachten – eines von der Uni Zürich und eines von der HSG – zum Schluss gekommen, dass ein gesetzlicher Mindestlohn auch auf Gemeindeebene zulässig ist.
Dufournet: Der Auftraggeber der genannten Gutachten war die Stadt Zürich. Dass Auftragnehmer zu einem Schluss kommen, den der Auftraggeber gerne hören möchte, ist wenig überraschend. Und was eine «sozialpolitische Massnahme» ist oder nicht oder was «moderat» ist oder nicht, da gibt es Interpretationsspielraum. Aus unserer Sicht ist es so oder so ein unzulässiger Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit.

Mit dem Mindestlohn von 23.90 Franken pro Stunde soll vorab die Armut bekämpft werden. Laut einer Einschätzung der Konjunkturforschungsstelle der ETH (KOF) käme der aber nur sieben Prozent der Armutsbetroffenen zugute. Wird hier nicht der Hauptzweck verfehlt?

Dufournet: Absolut. Wie zuvor schon erwähnt, lässt der Stundenlohn alleine nicht auf die finanzielle Situation einer Person schliessen. Der Untersuch des KOF zeigt, dass letztlich von einem Mindestlohn sehr wenig Armutsbetroffene wirklich profitieren können. Und das zeigt wiederum, dass man mit der Vorlage auf dem falschen Weg ist und sich besser Massnahmen ausdenken müsste, die diesbezüglich mehr helfen würden.
De Weck: Diese Massnahme ist sehr zielgerichtet, weil sie eben nicht einfach Armut bekämpft, sondern gezielt Erwerbsarmut. Sie betrifft jene Personen, die arbeiten und trotzdem arm sind. In Zürich sind dies wie erwähnt 17 000 Personen. Dies sind zum Glück «nur» vier Prozent der Arbeitenden in der Stadt. Aber genau für diese Personen ist ein solcher Mindestlohn extrem relevant. Ich gebe aber Frau Dufournet insofern recht, dass mit der Einführung eines Mindestlohns die allgemeine Armut per se nicht verschwindet. Um diese zu bekämpfen, braucht es ganzheitliche Massnahmen, wozu neben dem Mindestlohn auch bezahlbarer Wohnraum, bezahlbare Krankenkassen oder Ausbildungsunterstützung gehören.

Inwieweit hilft die Vorlage bei der Bekämpfung von Billiglohn?

De Weck: Die anvisierte Massnahme ist sicher auch eine wirksame Massnahme gegen Lohndumping. Und natürlich müssen wir Lohndumping bekämpfen. Dieser Ansicht sind übrigens auch Gewerbevertreter, die faire Löhne zahlen und uns deshalb gegen die schwarzen Schafe in ihrer Branche, die Lohndumping betreiben, unterstützen. So kann es nicht sein, dass der Staat am Schluss Lohndumping über Sozialleistungen subventioniert.
Dufournet: Dem kann ich zustimmen. Lohndumping muss bekämpft werden. Was ich in diesem Kontext relevant finde, ist der Punkt, wer beziehungsweise welche Branchen davon betroffen sind. Wir reden hier hauptsächlich von Reinigungskräften und Angestellten in der Gastronomie und im Detailhandel. Sie arbeiten alle in Branchen, die Gesamtarbeitsverträge abgeschlossen haben. Da kann man nicht von Lohndumping sprechen, denn in den jeweiligen GAVs sind die Mindestlöhne geregelt. Das erklärt, warum gewisse Branchenverbände nicht etwas gegen eine Mindestlohnregelung per se haben, jedoch dass diese staatlich und nicht zwischen den jeweiligen Vertretern geregelt werden soll. Die Sozialpartnerschaft wird so geschwächt.
De Weck: Da muss ich klar widersprechen. In den Kantonen Genf und Neuenburg gibt es bereits seit einiger Zeit Mindestlöhne und die Sozialpartnerschaft wurde deswegen nicht geschwächt.
Dufournet: Das halte ich für unwahrscheinlich. Wenn Sie zwei Vertragsparteien haben, die teilweise seit Jahrzehnten zusammen einen ganzen Strauss an Regeln aushandeln und dann ein Vertragspartner quasi hintenrum über den Staat anfängt, Faktoren dieses Handels zu seinen Gunsten abändern zu lassen, dann ist eine Zusammenarbeit nachhaltig gestört.

Gegner der Vorlage behaupten, bei einer Annahme würden Stellen abgebaut beziehungsweise ausgelagert. Zu Recht?

Dufournet: Ja. Es gibt Studien, die sagen, dass es bei einem Mindestlohn negative Beschäftigungseffekte geben kann, also Leute aus dem Arbeitsmarkt verdrängt werden, insbesondere im Niedriglohnbereich. Dabei muss man miteinberechnen, dass es auch sonst negative Effekte auf das Arbeitsverhältnis haben kann. Etwa indem ein Unternehmer zum Erhalt seiner Marge Benefits für seine Mitarbeitenden streicht.
De Weck: Studien zeigen klar, dass sehr moderate Mindestlöhne kaum Effekte auf die Beschäftigung haben. Auch sind es nur sehr wenige Betriebe in der Stadt Zürich, die Löhne unter dem angestrebten Mindestlohn zahlen. Es gibt somit keine Gefahr eines Stellenabbaus.

Besteht nicht die Gefahr, dass ein Mindestlohn eine Berufsausbildung unattraktiv macht, da Ungelernte teilweise höhere Löhne erhalten als Auszubildende?

De Weck: Nochmals, wir sprechen hier von einem tiefen Mindestlohn, mit dem es noch immer schwer wäre, in der Stadt Zürich über die Runden zu kommen. Er wird darum Niemanden davon abhalten, eine Ausbildung zu machen. Kommt hinzu, dass die Vorlage Praktikanten und Lehrlinge ausnimmt. Der Stadtrat hat zudem eine Ausnahme für unter 25-jährige ohne Lehrabschluss eingefügt.
Dufournet: Wenn man sich vor Augen führt, dass man unabhängig von einer Ausbildung immer einen Lohn erhält, dann minimiert dies die Anreize, eine solche zu absolvieren. Um den Ausbildungsweg nicht zu schwächen ist es aus unserer Warte immanent wichtig, dass Lehrlinge von einem Mindestlohn ausgenommen sind.

Hat ein Mindestlohn einen Effekt auf die Produkt- und Dienstleistungspreise? Und wird die Teuerung deswegen weiter ansteigen?

Dufournet: Einzelne Unternehmen werden die Mehrkosten sicher an den Konsumenten weitergeben. Die Teuerung wird deswegen aber kaum ansteigen.
De Weck: Da stimme ich zu. Allfällige geringe Preiseffekte sind zudem auf jeden Fall geringer als der positive Effekt eines existenzsichernden Lohns für Mindestlohnempfänger und die Mindestlohnempfängerinnen.

Zusammenfassend in zwei, drei Sätzen: Warum muss die Vorlage unbedingt angenommen beziehungsweise abgelehnt werden?

De Weck: Die Fraktionen von SP, Grüne, AL, EVP und die Mitte haben im Gemeinderat einen breit abgestützten Kompromiss gefunden. Der Stadtrat steht auch hinter der Vorlage. Es sollte in einer sozialen Marktwirtschaft eine Selbstverständlichkeit sein, dass ein Lohn zum Leben reichen muss.
Dufournet: Die Vorlage ist aus Sicht der Bürgerlichen wie auch der Delegierten der Mitte abzulehnen, weil sie die Sozialpartnerschaft untergräbt, zu steigenden Konsumentenpreisen führt und die Jobsuche erschwert. Und weil sie zu einer Mehrbelastung für Unternehmen führt.

 

Die «Mindestlohn-Vorlage» in Kürze

Ausgangslage:
Laut einer Erhebung des Bundes verdienen in der Stadt Zürich rund 17 000 Personen trotz Vollzeitpensum weniger als 4000 Franken im Monat. Für ein Initiativkomitee aus Vertretern von SP, Grüne, AL, Hilfswerken sowie Gewerkschaften kein Gehalt, um damit in der Stadt leben zu können, weshalb sie im November 2020 die Initiative «Ein Lohn zum Leben» beim Stadtrat einreichten. Dieser begrüsste zwar das Vorgehen, Erwerbstätige vor Armut zu schützen. Trotzdem sah er sich dazu veranlasst, einen Gegenvorschlag auszuarbeiten, weil die Initiative nur teilweise gültig gewesen wäre. Dabei folgte die Version des Stadtrates bis auf wenige Punkte der Verordnung, wie sie das Initiativkomitee vorgeschlagen hatte. Nachdem eine Mehrheit des Gemeinderats dem Gegenvorschlag mit wenigen Anpassungen zugestimmt hatte, zog das Initiativkomitee seine Initiative zurück. Allerdings ergriffen kurz darauf FDP, GLP und SVP mit einer breiten Allianz aus Gewerbevertretern gegen den Gegenvorschlag das Referendum, weshalb das Stimmvolk der Stadt Zürich darüber entscheidet.

Die Vorlage zusammengefasst:
Die neue Verordnung gemäss Gegenvorschlag sieht einen Mindestlohn von Fr. 23.90 pro Stunde für alle Arbeitnehmenden vor, die mehrheitlich auf dem Gebiet der Stadt Zürich arbeiten. Dieser Betrag wird jährlich überprüft sowie der Teuerung und der Lohnentwicklung angepasst. Um Fehlanreize zu vermeiden, werden generell Personen unter 18 Jahren und Familienmitglieder sowie Personen in Ausbildung (Lehrlinge und – befristet – Praktikanten) und unter 25-Jährige ohne Berufsabschluss von der Regelung ausgeschlossen. Insbesondere soll eine Berufsbildung attraktiver bleiben als Aushilfejobs. Dem Mindestlohn unterstellt sind alle Unternehmen, die «mehrheitlich» in der Stadt Zürich tätig sind. Für die Durchsetzung des Mindestlohns wird eine Kontrollstelle eingerichtet. Der Stadtrat wird die Sozialpartner bei der Umsetzung angemessen miteinbeziehen.

Das sagen die Befürworter:
Die Gemeinderatsfraktionen der SP, Grünen, AL und Mitte / EVP sehen in der Vorlage eine wichtige sozialpolitische Massnahme zur Bekämpfung der Erwerbsarmut. Wer 100 Prozent arbeitet, soll von seinem Lohn auch leben können. Stellen würden dabei keine verloren gehen. Stadt- und Gemeinderat empfehlen ebenfalls, die Vorlage anzunehmen.

Das sagen die Gegner:
Ein kommunaler Mindestlohn würde nach Ansicht der bürgerlichen Parteien und der Mitte sowie einer Mehrheit von Gewerbevertretern die bewährte Sozialpartnerschaft untergraben. Er würde die Problematik der Working Poor nicht lösen, sondern es besteht die Gefahr von Stellenverlusten, da hiesige Betriebe im Vergleich zum städtischen Umland an Konkurrenzfähigkeit verlieren würden. Und er brächte eine zusätzliche bürokratische Belastung sowohl in der Stadtverwaltung als auch bei allen Unternehmen.

Neben dem Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Ein Lohn zum Leben» wird am 18. Juni auch über den «Wohnraumfonds: Objektkredit von 100 Millionen Franken und Rahmenkredit von 200 Millionen Franken», «Wohnraumfonds: Änderung der Gemeindeordnung», «Betriebsbeiträge Pestalozzi-Bibliothek Zürich» und den Neubau der «Schulanlage Saatlen» abgestimmt.

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