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Interview

«Das ‹Sie› widerspiegelt die Sprachgeschichte, in der sich meist die respektvolleren Anredeformen durchgesetzt haben»: Christiane Hohenstein, Professorin für Interkulturalität und Sprachdiversität an der ZHAW. Bild: PD

Ein «Du» braucht Vertrauen

Von: Sacha Beuth

06. Oktober 2020

Nach dem Erscheinen des Artikels «Der Eiertanz mit dem Du» trafen beim «Tagblatt» Dutzende Leserbriefe zum Thema Duzen ein. Christiane Hohenstein (57), Professorin für Interkulturalität und Sprachdiversität an der ZHAW, erklärt, warum viele darauf emotional reagieren und wieso das «Du» in einigen Bereichen das «Sie» abgelöst hat.

Der Duzen-Artikel vom 23. September hat ein ungewöhnlich starkes Echo unter der «Tagblatt»-Leserschaft ausgelöst. War dies zu erwarten und falls ja, warum?

Christiane Hohenstein: Auf der einen Seite hätte ich nicht gedacht, dass es gleich zu so vielen Reaktionen kommt. Andererseits sind sie auch nicht völlig unerwartet, spiegeln sie doch das Bedürfnis vieler Menschen nach einem Differenzieren bei der Anredeform zwischen einer formelleren und distanzierten, und einer informellen und vertrauten.

Sie haben die Leserbriefe dazu gelesen. Konnten Sie ein bestimmtes Muster erkennen? Gibt es etwas, was die Leute generell stört?

Was ich rausgelesen habe ist, dass sich Menschen geradezu beleidigt fühlen, wenn sie ungefragt geduzt werden. Das «Du» setzt ein Vertrauensverhältnis voraus und benötigt in der Schweiz in der Regel einen formellen Akt. Das heisst, es wird normalerweise erst, nachdem man sich etwas besser kennt und nach beidseitiger Absprache, geduzt. Ansonsten wird es als mangelnder Respekt empfunden. Beim Siezen ist Absprache nicht nötig. Hier wahren beide Gesprächspartner Distanz und Höflichkeit. Das «Sie» ist Usus und widerspiegelt die Sprachgeschichte, in der sich meist die respektvolleren Anredeformen durchgesetzt haben.

Innerhalb der Familie fand in letzter Zeit jedoch eine Gegenbewegung statt. Noch vor 100 Jahren haben Kinder ihre Eltern gesiezt. Nun duzt man sich. Wie kam es dazu?

Das Familienbild in unserer Gesellschaft hat sich stark gewandelt. Der Umgang zwischen Eltern und Kindern ist viel vertrauter und enger als früher, weniger autoritär, dafür mit mehr demokratischen Strukturen. Kinder werden von ihren Eltern vermehrt auf Augenhöhe behandelt.

Anders in der Schule. Hier werden Lehrpersonen nach wie vor gesiezt, während die Schüler geduzt werden.

Lehrpersonen waren schon immer Respektspersonen. Beim Unterricht findet auch keine Kommunikation auf Augenhöhe statt. Zudem gelten Schülerinnen und Schüler bis zum zehnten Schuljahr noch als Kinder. Kinder dürfen noch unbedarft mit der Anrede umgehen, gelten aber auch noch nicht als gesellschaftsfähig. Ab dem 10. Schuljahr behandeln wir sie als Mitglieder der Gesellschaft mit eigener Verantwortung, weshalb sie dann in der Regel gesiezt werden.

Und wie erklärt sich die voranschreitende «Du»-Kultur innerhalb von Unternehmen?

In gewissen Branchen, insbesondere dort, wo viel körperliche Arbeit geleistet wird, ist Duzen schon sehr lange üblich. So etwa in der Landwirtschaft oder in Kohlebergwerken. Hier ist Nähe und gegenseitiges Vertrauen zwischen den Arbeitern, aber auch zwischen Arbeiter und direktem Vorgesetzten unabdingbar. Unter Umständen kann davon sogar in gefährlichen Situationen das Leben abhängen. Generell erleben wir auch im Büroalltag einen Demokratisierungsprozess. Durch das Duzen wird das Gruppengefühl gestärkt und die Kommunikation untereinander ist direkter. Viele Firmen haben die «Du»-Kultur bewusst eingeführt, wenn sie sich auch nicht immer in allen Bereichen und über alle Hierarchien durchsetzt bzw. umgesetzt wird. So kann es durchaus sein, dass gegen aussen die Form gewahrt wird. Also etwa, wenn an Medienkonferenzen die Pressesprecherin den Konzernchef siezt, obwohl die beiden ansonsten per Du sind.

Lässt sich somit Nähe verordnen?

Nein. Die Basis dafür muss im jeweiligen Betrieb schon vorhanden sein. Hierbei kommt vielen gerade international tätigen Schweizer Firmen entgegen, dass seit den 1990er Jahren verstärkt Englisch als Firmensprache verwendet wird. Mitarbeitende aus dem anglophonen Raum sind sich die «You»-Kultur gewohnt und fördern quasi deren Einführung. Allerdings liegt hier ein «Übersetzungsfehler» vor, denn dieses «You» entspricht nicht unserem «Du».

Wo liegen die Unterschiede?

Das «You» ist eine verallgemeinerte, respektvolle Höflichkeitsform und entspricht eigentlich einer Anrede mit «Sie» plus Vorname. «You» hat sprachgeschichtlich das weniger höfliche «Thou» ersetzt, das man inzwischen nur noch in alten englischen Texten findet. Dieses «Thou» entspräche unserem, das heisst im deutschsprachigen Raum verwendeten, «Du». Der sprachliche Wandel fand mit dem gesellschaftlichen Wandel statt, als das Bürgertum aufkam und als Aristokratien durch Demokratien ersetzt wurden. Das «Du» oder vergleichbare Anreden des Adels für Vertreter des gemeinen Volkes schwand und stattdessen gingen höflichere Formen, ursprüngliche Anreden für Vertreter des höheren Standes wie das «Sie» auf Bürgerliche über. Dieser Wandel spielte sich in allen westlichen Gesellschaften so oder ähnlich ab.

Nicht nur innerhalb einer Firma, auch gegen aussen setzt man auf «Du». Was versprechen sich Unternehmen davon, wenn sie ihre Mitarbeiter anhalten, Kunden zu duzen?

Ich vermute, dass damit eine grössere Nähe zu Kundinnen und Kunden geschaffen werden soll. Wie die Praxis zeigt, funktioniert dies aber meist nicht. Für ein «Du» muss erst ein Vertrauensverhältnis hergestellt werden. Das setzt voraus, dass man sich häufiger sieht, gemeinsame Ziele hat und gemeinsame Erfahrungen teilt. Einmal im Jahr den Bankberater treffen, reicht dafür nicht.

Wird der Vormarsch der «Du»-Kultur somit gestoppt oder wird sich das Duzen weiterverbreiten?

Das ist schwer vorauszusehen. Sprache und Umgangsformen nehmen im Laufe ihrer Entwicklung Wege, die man erst im Nachhinein erkennen kann. Im Moment sind weltweit viele Gesellschaften von Spaltungen geprägt, was für das einvernehmliche Duzen nicht gerade förderlich ist. Andererseits kann es dort, wo ein starker kooperativer Zusammenhalt herrscht und gesellschaftlich ein gleichberechtigter Umgang gepflegt wird, wie etwa in Skandinavien, den Trend zur Stärkung demokratischer Strukturen fortsetzen.

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